Dieser Text wurde als Leserbrief für MusikTexte, Dezember 2003, geschrieben, wurde aber nicht veröffentlicht, weil kurz nach dem Tode von Peter Niklas Wilson. Die Diskussion finde ich aber wichtig, deshalb geschieht die Veröffentlichung hier. Improvisation findet auch in komponierten Rahmen statt; wie das in der neuesten Zeit stattgefunden ist, hat gerade PNW als einer der ersten in zusammenhängender, reflektierter Form zu beschreiben versucht. Der Serialismus hat durch die erstmalige Betrachtung von Musik in Parametern wie Tonhöhen, Längen, Dichten, Dynamiken etc., kurz gesagt, durch stringente Klangbetrachtung, die Sichtweisen der neuen Musik und auch improvisierter Musik entscheidend mitbeeinflusst (vgl. das erwähnte Buch von Levaillant). |
Obwohl PNW sonstwo Innovatives zur neuesten Musikgeschichte geleistet hat, obwohl er Konservatismus in der Neuen Musik zu Recht kritisiert, ist doch seine Betrachtung des Serialismus im Artikel "Filtern, Struturieren, Speichern..." in MusikTexte 99 Dez. 2003 massiv einseitig und korrekturbedürftig.
Laut PNW soll der historische Serialismus schlimm sein, weil Ausdruck von "Furor der Dekonstruktion" und wegen der Suche nach ganz neuen Klängen, die schliesslich "Kernintervalle bisheriger westlicher Tonsystemkonstruktionen, Oktave, und Quinte, schlicht per Dekret ausser Kraft zu setzen" trachtete. Das ist für PNW eine "Selbststilisierung" und Ausdruck eines faustischen Geistes, "der stets verneint" (alle Zitate S. 55 oben). Nicht einmal ein zweiter Weltkrieg mit darauffolgender Nachkriegsangst entschuldigt für PNW so ein Furor.
Dagegen ist die Radikalität von Cage laut PNW gar kein Furor und von keinerlei faustischem Geiste infiziert, sondern bedeutet eine "perzeptive Revolution", weil inklusiv und weil von einer Idee der Entsubjektivisierung geprägt. - Dass die Idee der Entsubjektivierung auch für den Serialismus massgeblich war (vgl. u.A. die frühen Hefte der Zeitschrift "die reihe") scheint PNW gar nicht zu wissen. Auch wäre relevant zu betrachten, dass Indetermination beim Schönberg-Schüler Cage mittels intensiver systematischer Bestrebungen vom Schönberg-Schüler Cage erreicht wurde, z.B. in characteristischen Werken wie das Klavierkonzert, die Variations-Serie und das 4:33 (einschl. frühe Versionen, die den beiden gedruckten vorausgingen). Ja, Systematisierungen können sogar lustvoll und schöpferisch relevant sein, vgl. die Spiel-Kompositionen von Wolff und Zorn, deren Bedeutung PNW sehr wohl erkannte - und sie können auch bei Serialisten mit Klangfaszination verbunden sein (s. "Der Klang hält nicht mehr grob in sich zusammen", Klangbetrachtung und Auffassung des Netzwerkes im frühen Serialismus).
Mit den einfachsten Polarisierungen kommen wir den Sachverhalten weder analytisch noch historisch zurecht. Fassen wir lieber ins Auge, dass es um verschiedene und schliesslich nicht völlig unverwandte Strategien geht. So sieht Denis Levaillant die serielle Betrachtung als auf "la fait sonore brut" basierend, ausgerechnet in seinem Buch "L'Improvisation musicale" (Biarritz 1981/1996). Es gibt hier noch vieles zu entdecken. Mit seinem sensitiv forschenden Geiste hätte PNW das sicher verstanden, hätten wir die Diskussion mit ihm fortsetzen können.
"Der Klang hält nicht mehr grob in sich zusammen". Kleines Artikel 1996 rev. 2004.
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