LESERBRIEF MUSIKTEXTE 96, Februar 2002


Dies wurde im dem genannten Heft gedruckt - jedoch ohne die dazugehörige Literaturliste. Es handelt sich um ein Kommentar zu Begriffen wie Interaktivität und Demokratie, die in Zusammenhang mit unserer Aufführungspraxis gesehen werden muss, so meine These. Wenn nämlich die Spielpraxis eine autoritäte Form folgt, wieviel Wert hat denn in Wirklichkeit die Berufung auf Demokratie und ähnliches ??



Interaktivität und Demokratie sind interessante, zudem auch nicht ganz unrelatierte Begriffe, und für mich als Komponist und Freund der "alternativen Musikgeschichte" seit 1968 bot die MusikTexte 95, November 2002 vielfältige Anregung und Provokation, sie zu kommentieren.

In seinem Artikel "Demokratie und neue Musik" bespricht Claus-Steffen Mahnkopf individuelle Haltungen und Werk-Ideologien bei Nono und anderen. So wichtig Gesinnungen auch sind, vergessen wir doch nicht, dass Demokratie letzlich auf Erfahrungen mit konkreter Zusammenarbeit fusst. Gerade hier können wir als Künstler Konstruktives tun, Modelle menschlicher Zusammenarbeit zu ästhetischen Zwecken schaffen.

Bekannt ist, dass nicht nur der Wortsinn in dem, was man sagt, von Bedeutung ist - man denke z.B daran, wie Schüler Aussagen des Lehrers verstehen und missverstehen. Sehr einflussreich ist auch, wie es gesagt wird. In der Musik gilt ebenso nicht nur eine als Isoliertes betrachtete semantische Ebene. Drückt ein Werk sich in traditioneller Notation aus, wird es einfach als ein Text einstudiert und vorgetragen, wird es schliesslich als Eindeutiges dargeboten - ja, dann wird zugleich ein Lehrstück im Brechtschen Sinne vorgetragen, ganz abgesehen von möglichen, anderswohin zielenden "Inhalten": Organisation darf gerne autoritär sein, du sollst dich von begabten Repräsentanten inspirieren lassen, wie es ja auch die Musiker treu und redlich tun. Die traditionelle Kommunikationskette Komponist--> Interpret--> Hörer, die Thomas Gartmann zu Recht kritisiert, ist da noch intakt. Wenn dagegen die Musiker offensichtlich aktiv mitschaffend sind, wenn das eine in der Spielpraxis dialektische, kollektive Leistung ist, und wenn die Aufführung ahnen lässt, dass dies vielleicht nicht ein ganz feststehendes Objekt sei und dass die Musik auch in hohem Grade im Kopf und Leib des Hörers entsteht, dann lockert sich die Kette, es wird eine humanistische Vision doch nicht nur mitgeteilt, sondern Musiker und Hörer werden ein Teil davon.

Auf die Spitze getrieben: Ob die Maxime "Alle Menschen werden Brüder" lautet nach klassischer Art oder eher modern, wie "Alle Menschen werden Brüder, oder wie?" - diese Frage hat vielleicht aus der Kontext gesehen ihren Sinn verloren. Stattdessen: aussagekräftige Realstrukturen und Geschehnisse, bitte, nicht nur nachsynkronisierte Texte!

Folgerichtig daher, dass Thomas Gartmann in seinem Artikel "Musik und Interaktivität - ein Paradox?" eine Reihe von Werken, die neue Aufführungspraxis erforschen, betrachtet. Kompositorische Internet-Stafette, Publikumsbeteiligung die auf ein elektronisches System einwirkt, Wandelkonzert im Freien, der Komponist als Architecht eines Rahmens für Aufführungen.

Die Auszüge aus Mathias Spahlingers konzepte zu ver(über)flüssigung des komponisten (abgedruckt wurde nur eine kleine Auswahl aus dem Buche, als Rote Reihe 70, 1993 erschienen) sind eben erfreuliche Beispiele einer nicht-autoritären Musikauffassung, die auch die Spielpraxis beeinflusst. Es werden Aufgaben gestellt, die nur mittels kollektiver Aufmerksamkeit zu lösen sind. In "ein engel" geht es um das Eintreten einer Pause unvereinbarter Länge und an unvereinbarter Stelle. In "eigenzeit" sollen die Musiker sich kritisch auf das Erfinden von Klängen konzentrieren, zugleich aber auch den günstigsten Einsatzzeitpunkt abwarten und auch dazu eine zu grosse Dichte vermeiden. Da gibt es sicher was mitzuerleben und mitzuvollziehen (schönes Wort, darum geht es ja!) als Hörer - und vielleicht am wichtigsten: wir haben die Chance, es ist nicht ausgeschlossen, dass das ganz Besondere entsteht.

Wenn wir die Gradlinigkeit der Kommunikationskette zugunsten von komplexeren und avancierteren Strukturen lockern, verliert dann dabei der ästhetische Gehalt, wie Gartmann trotz allem Optimismus in einigen Fällen vermutet? In jedem Fall kann das Erlebnis in allen Beteiligten intensiviert werden, wohl kein schlechter Ausgangspunkt.

Die unbhängige Szene der freien Improvisation hat Triumphe gefeiert seit den siebziger Jahren - trotz sehr sparsame ökonomische Ressourcen funktionieren internationale Netzwerke und eine umfangreiche CD-Produktion. Wenn offene Komposition mit Innovationen der Notation, Einbeziehung von Improvisationselementen, kurz, die andere "alternative" neue Musik, sich wegen eines solchen Erfolgs noch nicht freuen kann, liegt es sicher nicht zuletzt an institutionellen Verhältnissen. Ein Problem, dass vielleicht langsam durch engagierte Ensembles behoben werden kann. Komponisten sind aber auch hochgradig beteiligt. Möge die ver(über)flüssigung weiter um sich greifen - für die Zukunft einer solchen humanistischen Entwicklung sind wir alles andere als überflüssig!


LITERATUR:

Feisst, Sabine: Der Begriff 'Improvisation' in der neuen Musik (Diss., Berlin, Freie Universität 1995). Sinzig (Studio, Verlag Schewe), 1997. Berliner Musik Studien 14.

Globokar, Vinko: "Vom Reagieren", Melos 2, 1971.

Globokar, Vinko: Individuum-Collectivum. Saarbrücken (Pfau), 1995.

Gronemeyer, Gisela; Oehlschlägel, Reinhard (hrsg.): Christian Wolff. Cues. Writings and Conversations / Hinweise. Schriften und Gespräche. Köln, 1998. Edition MusikTexte 005.

Keller, Max E.: "Improvisation und Engagement", Melos 4, 1973.

Müller, Hermann-Christoph: Zur Theorie und Praxis indeterminierter Musik. Aufführungspraxis zwischen Experiment und Improvisation. Regensburg (Gustav Bosse Verlag), 1994. Kölner Beiträge zur Musikforschung, Band 179.

Stryi, Wolfgang: "Die fortgeschrittenste Entwicklung". Mathias Spahlinger im Gespräch, MusikTexte 86/87, November 2000.

Sutherland, Roger: New Perspectives in Music. London (Sun TavernFields).

Wilson, Peter Niklas: Hear & Now. Hofheim (Wolke Verlag), 1999.


Besonders für Deutsche

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