DER KLANG HÄLT NICHT MEHR GROB IN SICH ZUSAMMEN

Klangbetrachtung und Auffassung des Netzwerkes im frühen Serialismus (1996/2004).

von Carl Bergstrøm-Nielsen.

Dies ist eine 2004 revidierte Fassung eines Textes, der in MusikTexte 62/63 (Januar 1996) S.115 unter der Überschrift "Wie die Komponisten ihre Musik liebten" erschien. Für richtigstellende Kommentare bin ich dem Komponisten Gottfried Michael Koenig sehr dankbar (Mail-Korrespondenz Juli/August 1998). Auch verdanke ich Jørgen Lekfeldt wichtige Anregungen. 1)



Im Heft 60 (August 1995) könnte der Leser im Aufsatz von Reinhard Oehlschlägel den Eindruck gewinnen, dass der neugeborene Serialismus "in den Texten und Begründungen der jüngsten Nachkriegsgeneration" ausschliesslich in feierlicher emphatischer Weise als historischer Fortscritt gelobt wurde. Als Musikforscher mit besonderem Interesse daran möchte ich aber einige andere Züge am frühen Serialismus hervorheben. 2)

Nach dem Aufgeben von traditionellen melodischen, harmonischen und rhythmischen Kategorien wurde der Klang selber wichtiger Ausgangspunkt und erschien in neuer Weise untrennbar von der musikalischen Konstruktion. Im ersten Heft von der Zeitschrift "die Reihe" (Wien (UE), cop. 1955; S.7) sagen Herbert Eimert und Karlheinz Stockhausen programmatisch: "das Verhältnis zum Klang ist nie so unmittelbar wie heute" und bezeichnen die serielle Organisation so: "[der Klang] hält nicht mehr grob in sich zusammen, sondern muss durch ein feines, dicht gewebtes Netzwerk zusammengehalten werden".

Der Klang wurde analysiert und exakt behandelt, der Sinuston manchmal als "Grundstoff" angesehen, doch man war sich bewusst, dass es um eine künstlerische, nicht wissenshaftliche Arbeit ging. Karel Goeyvaerts sprach von einer "evokativen Bedeutung" (die Reihe 1, 1955, S. 15) und Herbert Eimert von einer "evozierenden Macht der Elemente" sowie von einer "Verbindung von Traum und präzisem Denken" (die Reihe 3, 1957, S. 6). "Am Webstuhl der Zeit, das wäre die vollkommenste kompositorische Matrix" - so zieht Herbert Eimert eine symbolische Vorstellung heran (ibid., S. 8). Stockhausen scheint spontan die kompositorische Organisation bei Webern mit Intuition und Phantasie zu verbinden, als er sie mit dem Ausbruch "traumhaft sicher" (die Reihe 2, 1956, S.58) charakterisiert. Goeyvaerts, dessen Organisation in er Sonate für zwei Klaviere (1950/51) viel diskutiert wurde, hat in den "MusikTexten" geschrieben: "Ein rationales Tonsystem wäre ein falsches Streben ... sie soll hervortreten aus einer kaum bewussten Entwicklung (MusikTexte 26, 1990, S.17). Hans-Heinz Stuckenschmidt charakterisierte als Reszensent 1954 die Verbindung von Wissenschaft und Kunst als "romantisches Interesse an Formeln und Apparaten" (Neue Zeitung, Berlin,19/6) - obwohl nicht ganz historisch adäquat und sicher etwas provokant für die Serialisten. "Alkymistisch" wäre wohl treffender gewesen - exakte, forschende Aktivität, von Intuition und Kreativität geleitet!

Das oben erwähnte Begriff vom "Netzwerk" wurde damals auch von Ligeti verwendet. In seiner bekannten Analyse der Structures I a von Boulez spricht er von einem Netzwerk, mit Fäden und Knoten (die Reihe 4, 1958). Das Begriff vom 'Netzwerk' ist auch heute nützlich für die theoretische Betrachtung dieser Musik. Sie verbindet anschaulich das Exakte mit dem Aspekt des künstlerischen Phantasierens.

Die Elemente eines Netzwerkes können Individualitäten sein, und sie sind vielfältig miteinander verbunden in einer nichthierachischen Struktur. Die Reihe könnte man zwar in einigen Fällen, obwohl nicht in allen, als übergeordnete Struktur ansehen - oder aber auch als bloss unterliegende Struktur, der kompositiorischen Vorarbeit, nicht dem Resultat zugehörig. Die Gleichberechtigung der Elemente, die vorher auf 12 Töne beschränkt war, dehnte sich auf die Redaktion der ganzen Musik aus. Die Musik wurde mehrdeutig, enthielt mehr Platz für die ungelenkte Aktivität der individuellen Perzeption des Hörers. Und, was für Henri Pousseur im folgenden Zitat wichtig war: es gab nun die Möglichkeit für Kontinuität zu den alltäglichen Hörerfahrungen. Das ästhetische Erleben wurde vom Alltag weniger künstlich abgehoben. Psychologisch gesehen entstand eine neue, nichtnostalgische Erlebnisqualität:

"Die Freude, die [traditionelle Musik] bereitet ist eine illusorische, wobei man sich momentan im göttlichen Bewusstsein wähnt... Beim Rückkehr zum täglichen Leben, nach einem derart paradisischen Entkommen, ist ein Kielwasser von Sehnsüchten unvermeidlich, eine akute Nostalgie nach der vergangenen Perfektion. Die neue Musik, insbesondere die elektronische, bietet dem einfachen Menschen, dadurch, dass sie nichts mehr von der klingenden Mannigfalt ablehnt, die Möglichkeit, nicht mehr besiegt, nicht mehr dominiert und Sklave zu sein ... Kunst ist nicht mehr von der Realität getrennt, die Poesie vom Prosa ebensowenig, und es ist wiederum möglich geworden, von einer ästhetischen Aktivität zum täglichen Leben zu gehen ohne Reue" (3)

Das folgende Zitat von Pousseur finde ich auch sehr schön. Darin wird nochmals auf das Thema von dem Sinnlichen und Anschaulichen im Kontrast zu einem in Höherem Grade als formalisierter angesehenen Charakter von traditioneller Musik eingegangen, und die Individualisierung der Klänge erscheint in poetischer und philosophischer Perspektive. Pousseur spricht hier über Anton Webern, doch wir können annehmen, dass er ebensosehr von seinem persöhnlichen Musikideal spricht (die Reihe 3, 1958, S.49):

"Der Wahrmehmungstyp, an den diese Musik apelliert, ist nicht mehr das durch die Materie hindurchführende Verständnis einer abstrakten Form ...; vielmeht handelt es sich um das aufmerksame Erfassenn eines jeden einzelnen "Hier und jetzt" in seiner Partikularität, um die wundersame Erfahrung einer hervorschiebenden Zeit, eines ständig erneuerten Bewusstseinsfeldes, um den Eintritt in eine Welt, die resolut offengehalten, auf unbestimmte Zeit unvollendet, unaufhörlich im Aufbruch ist".

Sieht man das serielle Netzwerk als ein Modell sozialer Relationen, dann fällt eben das erwähnte Nichthierachische auf - der Begriff "soziales Netzwerk" betont doch das Gleichberechtigte bei den Relationen.

Was nun die ausführenden Musiker betrifft, dann gab es in der frühen seriellen Musik zunächst keine neuen Freiheiten zum Mitschaffen - im Gegenteil sollte noch präziser als zuvor reproduziert werden. Man kann aber meiner Meinung nach die Komponisten schwerlich dafür tadeln, dass sie auf diesem Stadium die konzentrierte Arbeit auf die Klänge und Strukturen, auf die Notenblätter und Realisationspartituren verlegten. Man sollte sie lieber für die spätere Entwicklung loben, die eine gelockerte Aufführungspraxis möglich machte, trotz aller Widersprüche. Dafür mag die anfängliche serielle Vision geradezu folgenschwer gewesen sein.

Wohl gibt es manchmal die feierliche Verteidigung des Serialismus im Namen der historischen Notwendigkeit. Sie muss aber auch spezifisch als Aüsserungen mitten in einem Streit verstanden werden, welchem der kalte Krieg einer besonderen Härte verlieh, angesichts Skandalisierungsversuche in der Presse und mehrerer Pamphleten in Buchform gegen die neue Musik. Besonders die Invasion von Ungarn 1956 ruf Angst hervor, viele Menschen haben nach einer unmittelbar tröstendender Kunst verlangt statt nach einer kühnen und experimentellen. Darüber sollte jemand ein Buch mit Zitaten aus den Pamphleten etc schreiben, damit die Kenntnis darüber nicht ganz aus der Geschichte verschwindet!

Als bis jetzt bleibendes Zeichen eines partiellen Siegs der Konservativen ist das Dogma geblieben, die Entwicklung der seriellen Musik sei eine rein rationelle und exakte, die zuletzt aus immannenten Gründen scheitern müsste. Jedoch zum Glück ein nur rhetorischer Sieg: mancher Komponist hat zwar, so mein Eindruck, sich vom sündhaften alten Serialismus distanzieren zu müssen geglaubt. Man hat aber in Wirklichkeit einfach weitergemacht: die angebliche Krise war eher eine politische als dass sie immanent zur seriellen Musik gehörte.

Wir sollten jetzt reif für die Erkenntnis sein, die serielle Musik war in Wirklichkeit gar nicht sündhaft! Beides gab es, Drang nach Ordnung gegenüber dem früheren Chaos, auch ein neues, erfreuliches Hineinlauschen ins Klangphänomen. Eine in Europa seither kaum übertroffene Differenzierung musikalischer Strukturen resultierte. Wie auch das Verwenden vom Begriff des 'Parametrischen' zeigt, besteht Kontinuität zwischen der seriellen Musik und spätere Entwicklungen. Wie die Komponisten ihre Musik liebten, nicht nur wie sie diese gegen ihre Feinde verteidigten - das muss zentral für die Geshichtsschreibung sein.


1) Mail Juli 1998. Siehe auch Jørgen Lekfeldt: Sölle og Stockhausen - musikkens teologi og teologiens musik [Sölle und Stockhausen - Theologie der Musik und Musik der Theologie]. Mit einer deutschen Zusammenfassung, Viborg 1991. Das Buch enthält u.A. eine Interpretation der seriellen Prinzipien bei Stockhausen als Ausdruck utopischer/emanzipativer Modernität.

2) Bio- und bibliographischer Notitz: 1951 geboren und als Skandinaver habe ich die Phänomene nicht direkt miterlebt. Doch ich habe mich intensiv damit auseinandergesetzt als Hörer, in kompositorischer Praxis, in meiner Dissertation über 'Begriff und Rolle des Experiments in der neuen Musik seit 1945' (1979, auf Dänisch) sowie in einer nichtveröff. Arbeit nach Studien im Pressearchiv, Internat. Musikinstitut Darmstadt (1980, auf Dänisch, doch meistens aus Zitaten aus den Quellen bestehend). Siehe auch "Der Wahnsinn, den ich immer geliebt habe" (Umfrage), MusikTexte 36, Oktober 1990 (Über die Rezeption der 'Darmstadt-Schule' in Skandinavien). (NB - Berichtigung. Im Text steht: "...ISCM ist so uniformiert..." - stattdessen bitte lesen "behauptet wird, ISCM sei so uniformiert").

3) "La nuova sensibilità musicale", Incontri Musicali 2, Mai 1958, S.36 Übersetzung durch dies Autor.


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