BILD, MUSIK, BEWEGUNG - JOERGEN LEKFELDTS "MADISON MUSIC" (1976)

Fred Guntermann

Først trykt i / erstmals erschienen: Rüdiger, Wolfgang; Gagel, Reinhard: Ensembleleitung Neue Kammermusik. Dokumentation und Arbeitshilfe des Modellprojekts, Verband deutscher Musikschulen, Bonn, 2004.

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I Joergen Lekfeldts Madison Music (1976)

Madison Music ist eine grafische Komposition des 1948 geborenen dänischen Pianisten und Komponisten Joergen Lekfeldt. Der Komponist gehört zu den Mitbegründern der dänischen Gruppe für Intuitive Musik (GIM). Diese Gruppe, der als weitere prominente Vertreter auch Carl Bergstroem-Nielsen und Ivan Vincze angehören, setzt sich seit ihrer Gründung 1974 neben der Entwicklung eigener Stücke vor allem mit den Kompositionen von Christian Wolff, Karlheinz Stockhausens Text-Stücken sowie Werken von John Cage, Dubravko Detoni (1) und anderen offenen Kompositionen auseinander. B ei der Partitur, veröffentlicht in einem Aufsatz von Carl Bergstroem-Nielsen, handelt es sich um eine sehr „suggestive Zeichnung" oder offene „Spielvorlage" (2), wie sie in der GIM weit verbreitet sind. Laut Internetauskunft gibt es eine Einspielung dieser Grafik mit Joergen Lekfeldt (Piano) und Ivan Vincze (Viola). Weitere Informationen zum Stück waren nicht zu erhalten.

Bei dem Titel des Stückes denkt man natürlich gleich an den Madison Square Garden, eine riesige Sport-, Musik- und Unterhaltungsarena mitten in Manhattan, die nicht ganz unberechtigt mit dem Spruch „The World's most famous Arena" wirbt.

Madison ist aber auch
• der Name zahlreicher Orte in den USA, etliche benannt nach dem US-Präsidenten James Madison
• ein in den USA verbreiteter weiblicher Vorname
• ein Fluss im US-Bundesstaat Montana
• eine Disziplin im Bahnradsport (Zweier-Mannschaftsfahren).


Die Komposition besteht aus einer Reihe unterschiedlicher Linien, die sich teils recht frei in großen Bögen, teils in kleinsten Zickzackbewegungen über ein ansonsten leeres Notenlinienblatt ziehen. Abgesehen von zwei fast geraden, früh abbrechenden Linien berühren und überschneiden sich alle Linien mehrmals, viele verknäueln sich in sich selbst und/oder mit anderen.

So scheint es keineswegs abwegig, an ein Wollfadenwirrwarr oder auch an die Bewegungen der Spieler auf einem American-Football-Spielfeld zu denken. Die Bezugnahme auf das traditionelle Notensystem, das hier bis auf ein leeres Notenpapierblatt reduziert und unter die freien, scheinbar chaotisch verlaufenden Linien gelegt ist, weist jedoch deutlich über solche Assoziationen hinaus: Joergen Lekfeldt suggeriert hier eine musikalische Partitur. Die klassische Notationsstruktur wird auf ihren Kern reduziert - quasi nur noch symbolisch angedeutet - und der freien Bewegung des Ausdrucks, hier: den freien Linien gegenüber gestellt.



II Methodik und Stundenplanung

Im Unterricht wäre ein möglicher Ansatz sicherlich die improvisatorische Arbeit über die Assoziationen zum Kompositionstitel. In den weiteren Proben und Diskussionen würde dann - zumindest bei älteren Schülern

• auch die Frage nach der Bedeutung und aufführungspraktischen Relevanz der unterschiedlichen Notationssysteme (traditionelles und grafisch-freies) gestellt werden können.
Gegenüber diesem eher kognitiven Ansatz bevorzuge ich - zumal für eine erste Begegnung mit dem Werk
• eine improvisatorische, von der eigenen Körperbewegung ausgehende Einführung in die Komposition. Dieser Weg scheint mir zudem auch den musikalisch-„intuitiven" Intentionen der Gruppe um Joergen Lekfeldt (GIM) näher zu stehen. Als Material benutze ich dafür verschiedene farbige oder bevorzugt dunkle l Gymnastikbänder, die auf dem Boden verteilt werden.

Ohne die Partitur zu kennen, nähert sich die Gruppe (6 oder mehr beliebige Instrumentalisten) zunächst j improvisatorisch dem Stück. Hierzu teilt sich die Gruppe in zwei gleich große Ensembles auf. Der Leiter/die l Leiterin sollte in beiden Positionen aktiv teilnehmen. Der eine Teil der Gruppe nimmt sich nun die zuvor auf \ dem Boden verteilten Gymnastikbänder, der andere die Instrumente. Es bilden sich Paare von je einem ; Instrumentalisten und einem Gymnastikband-Spieler. Nun „dirigieren" die Spieler mit ihren Bändern aus der ! Mitte des Raums heraus in großen, runden Bewegungen jeweils ihren „Duopartner" am Instrument. Sollte i man hier im Vorfeld eine Befangenheit oder Unklarheit spüren- wie es wohl eher bei der Arbeit mit jüngeren Instrumentalschülern zu erwarten wäre -, demonstriert der Leiter/die Leiterin die Vorgehensweise kurz am eigenen Instrument.

Wahrscheinlich werden in dieser Übung die für diese Bänder typischen großen, spiralförmigen Kreise und die dazu passende fließende Musik entstehen.

In einem zweiten Übungsschritt wechseln „Dirigenten" und Spieler die Rollen. Diesmal sollen möglichst kleine, schnelle, kantige, für die Arbeit mit diesen Bändern untypische Bewegungen und die entsprechende Musik dazu erzeugt werden. Am Ende werden die Bänder inklusive der vielleicht schon entstandenen Knoten einfach auf dem Boden fallen gelassen. Bei optimaler Raumsituation kann z. B. die erste Übung im großen Kreis stehend und die zweite Übung im kleinen Kreis sitzend gemacht werden: so wird die Beziehung von Bild, Musik und Bewegung auch räumlich wahrnehmbar.

Die Ensemblemitglieder haben nun in der eigenen Körperbewegung, in der Bewegung der Bänder und in ihrer instrumentalen Nachahmung die Reaktion verschiedener Bewegungsabläufe auf die Entwicklung grafischer und musikalischer Linien erspürt. Als Variation zu diesen Improvisationen bietet sich in anderem - zeitlich größerem - Rahmen auch eine gemeinsame Bänderimprovisation aller im Kreis stehender Teilnehmer an: Beim abschließenden Fallenlassen der (ggf. ineinander verknoteten) Bänder entsteht eine ähnlich intuitive Grafik wie in der Madison Music. Diese „Grafik auf dem Boden" kann dann als gemeinsame Improvisationsgrundlage genutzt werden.

Nun wird die Partitur Madison Music von Joergen Lekfeldt ausgeteilt bzw. über Overheadprojektor allen zugänglich gemacht. Ohne weitere Erläuterungen werden die Gruppenmitglieder gebeten, sich die Bewegungen stumm vorzustellen und an irgendeiner Stelle der Grafik zu beginnen. Dabei ist es wichtig, die Grafik als Komposition ernst zu nehmen und immer im Auge zu behalten. Der Einsatz erfolgt ohne Zeichen nach einem kurzen Moment der Stille. Auch das Ende wird nicht vereinbart, es ergibt sich in der gemeinsamen musikalischen Gestaltung der Gruppe quasi von selbst.

Mitunter gestaltet sich dieser Zugang zum Werk, vor allem bei jüngeren und improvisationsunerfahrenen Schülern, als zu schwierig. Hier bietet sich dann - quasi als Überleitung von der vorausgegangenen bewegungsgeführten Improvisation zur instrumentalen Interpretation - eine kurze gemeinsame Improvisation nur mit Handbewegungen und Stimme an.

Schließlich befindet sich die Gruppe in einem gemeinsamen Gestaltungsprozess. In den folgenden Proben können nun die musikalischen Form- und Strukturelemente diskutiert und ausprobiert werden. Folgende Fragestellungen ergeben sich dabei:
• Wie lassen sich die unterschiedlichen Linienformen musikalisch umsetzen?
• Wie entwickeln sich einzelne Linien?
• Wie nah will die Gruppe am Entwicklungsverlauf einzelner Linien bleiben?
• Sollen bestimmte Linien einzelnen Instrumenten oder Instrumentengruppen (Saiten-TBlasinstrumente) zugeordnet werden?
• Was geschieht mit den Überschneidungen und Berührungen, sowohl zwischen den grafischen Bildlineaturen als auch zwischen Grafik und traditionellem Liniensystem?
• Wie lässt sich die unterschiedliche Dichte einzelner „Linienfelder" interpretieren?
• In welchem Verhältnis steht das von der Gruppe produzierteTClangbild zur visuellen Vorlage?

Die Fragen werden möglicherweise nicht bei den musikalischen Form- und Strukturelementen halt machen, sondern darüber hinaus zu grundsätzlichen Überlegungen zur musikalischen Qualität und zum kreativen Prozess führen:
• Wie ist der klangliche Unterschied zwischen dem bewegungsgeführten und dem diskussionsgeführtenf Zugang zum Werk?
• Wo ist die Grenze zwischen Komposition und Improvisation?
• Wer komponiert - der Komponist oder die Gruppe?

III Ziele

Natürlich können hier nicht alle Facetten der Grafik und ihrer musikalischen Umsetzung beleuchtet werden! das hier vorgestellte Konzept soll lediglich motivieren, eigene kreative Ideen und Lösungen zu entwickeln!

Die enge Beziehung von Energie bzw. Bewegung und Form (wie hier z.B. in Musik und Kunst) kann sowohl auf der körperlichen Ebene erleb- und spürbar werden als auch auf der kognitiven Ebene das Bewusstsein i die gegenseitige Bedingtheit (nicht nur) dieser Prozesse bewusster machen. Ideen zur Umsetzung grafischer! Konzepte in Klang können vermittelt werden, wie hier in einem ersten Teilziel die unterschiedliche grafische! und klangliche Qualität von Linien.

In diesen und weiteren Fragestellungen und Klangexperimenten scheint mir Joergen Lekfeldts Madisoi Music sehr gut für die Arbeit sowohl mit Jugendlichen als auch mit Amateurensembles geeignet zu sein.

IV Allgemeine Überlegungen

Die Beschäftigung mit dieser offenen Form zeitgenössischer Musik ist unter den hier angedeuteten Aspekten! für die Teilnehmer nur ein erster kleiner Schritt in Richtung auf eine veränderte Wahrnehmung (im Gestaltung) von Welt und möglicherweise auch gesellschaftlicher Prozesse.

Die Gruppenmitglieder werden angeregt, sich immer wieder neu mit dieser und anderen offenen Komposif tionen zu beschäftigen, sich selbst mit ihrer ganzen Person einzubringen, sich einzumischen und bestehend Wirklichkeiten zu verändern.
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(1) 1937 geborener kroatischer Komponist, der u.a. die für die Arbeit mit Schülern sehr gut geeignete Loseblattsammlung Grafik IV (1972) vorgelegt hat (Schott Mainz).

(2) Carl Bergstroem-Nielsen: Offene Komposition und andere Künste, in: ringgespräch über gruppenimprovisation Heft LXVIII, Juni 2002 (Themenschwerpunkt: Improvisieren nach Konzepten), S. 30 f. Vgl. auch vom gleichen Autor: Die Gruppe für intuitive Musik (DK) und ihre Geschwister. Ein persönlicher Bericht mit verschiedenen Betrachtungen, in: ringgespräch über gruppenimprovisation Heft LXX, Juli 2004 (Themenschwerpunkt: Orte der Improvisation), S. 44 - 50 und Festlegen, Umreißen, Andeuten, Hervorrufen. Analytisches zu den Textkompositionen von Karlheinz Stockhausen, in: MusikTexte. Zeitschrift für Neue Musik, Heft 72, November 1997, S. 13 - 16


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