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Dies Artikel ist im Ringgespräch über Gruppenimprovisation, Juni 2002, erschienen, hrsg. vom Ring für Gruppenimprovisation. Das Verein arrangiert Kurse und Tagungen und gibt alljährlich ein Kalender heraus über Improvisationskurse in Europa. Siehe die Webseite des Rings: www.impro-ring.de
Carl Bergstroem-Nielsen's Homepage ist hier.
OFFENE KOMPOSITION UND ANDERE KÜNSTE
Zwei Seiten dieser Sache: als Musiker abenteuern und als Komponist Abenteuer für Musiker schaffen. Beides hat sich bei mir ab dem Jahre 1971 gemischt.
Nach Erfahrungen mit klassischer Musik (einschließlich Komposition und mehr oder weniger gebundene Orgelimprovisation) kam nämlich die Begegnung mit Improvisation zusammen mit anderen Studenten, in der Gruppe für Alternative Musik - eine antiautoritäre Bewegung für neue Musik die vom Konservatorium in Kopenhagen ausging. Die ersten solchen Improvisationen an denen ich teilnahm waren nach einfachen Titeln - hätten vielleicht z.B. so etwas wie eine Farbe sein können, und Improvisationen ohne Absprache gab es auch. Das hat mich sogleich ganz ungemein ergriffen - welch eine Art, zusammen zu sein, welch ein Gefühl, als ich selbst wirklich schaffend zu sein - und ich fand es zutiefst erstaunlich, wie vieles innerhalb ganz wenigen Sekunden doch möglich war, gleichsam eine Diskussion im Medium Musik, während eine Komposition (Arbeit damit ging parallel) eher ganz monologisch war.
Wohlgemerkt, eine traditionelle Komposition. Denn dies hatte Folgen für meine Kompositionen - sie wurden zunehmend offener und von neuen Notationsformen geprägt. Einerseits geht es in offener Komposition um eine Weiterentwicklung von Komposition, andererseits um neue Möglichkeiten für Ausdruck, Entfaltung sowie eine neue Rolle des Musikers - beide sind entscheidend. Zufügen könnte man, daß sich für den Hörer auch neue Qualitäten erschließen und zwar nicht nur menschlich (Kontakt wird direkter) sondern auch musikalisch (neue Strukturen z.B. rhythmischer, organisch-komplexer Art werden möglich, die Hörerwartungen sind anders). Mehr Reflektionen über das Verhältnis von Improvisation und Komposition am Ende des Artikels, jetzt aber weiter ans Konkrete...
VERSCHIEDENE DÄNISCHE GRUPPEN FÜR INTUITIVE MUSIK - WERKSTÄTTEN FÜR OFFENE KOMPOSITION
HINWEIS - um die Fußnoten zu lesen empfehle ich, die "Zurück"-Funktion zu benutzen, nachdem die Note mittels Gebrauch vom entsprechenden Hyperlink gelesen ist! |
REGUNGEN
für kleines Ensemble Schalte Deine Gedankenaktivität aus bist du soweit sei nun auf Deine inneren Regungen aufmerksam WÄHLE EINE aus diesen Regungen und bringe sie musikalisch zum Ausdruck ganz wie du den Verlauf dieser Regung spürst ohne ihn zu formen verlasse den Prozeß mach eine Spielpause WÄHLE EINE andere aus diesen Regungen und bringe sie musikalisch zum Ausdruck ganz wie du den Verlauf dieser Regung spürst ohne ihn zu formen verlasse den Prozeß nimm deine NORMale Gedankenaktivität wieder auf |
© Die Gesellschaft für die Publikation dänischer Musik
"Regungen" von Ivan Vincze (1994) folgt die Tradition aus Stockhausens Meditationsanweisungen, ist aber eine originelle Variante. Statt Abwarten der völligen inneren Stille wie in Stockhausens ES, kommen die einzelnen Impulse in unserem Stream of Consciousness direkt zu Wort - eine Art musikalisches, "psychodramatisches Kaleidoskop". Diese Basis in unseren eigenen Impulsen führte im Spiel zu einem großen Vertrauen in den eigenen Ausdruck und zu polyphoner Unabhängigkeit voneinander, zugleich auch zu reger, gegenseitiger Inspiration.
"cum processio tum missa non est..." von Max E. Keller (1970) wohnt einem gewissen Charakter von Buntheit, Wahlmöglichkeiten ad lib. und Lockerheit inne, vielleicht nicht ganz untypisch für die 68-iger Zeit damals. Doch, wer sagt, daß Wahlmöglichkeiten jetzt nicht relevant sind? Jeder darf den Prozeß in seinem eigenen Tempo durchlaufen. Dennoch gibt es auch systematisch und detailliert auskomponierte thematische Strukturen und Spielregeln (5). Aus unserer 1978-er Aufführung in der GIM (wir hatten ein ganzes Konzert nur mit Keller-Stücken!) erinnere ich dies Gefühl von Lockerheit und Ausgedehntheit - und wie es mir Spaß machte, ein Ereignis "91x zu wiederholen ... ohne auf die Mitspieler zu hören". Ein (humoristisches) Beispiel dafür, wie Komponiertes uns erlaubt, neue Verhaltensweisen auszuprobieren! (6)
© Die Gesellschaft für die Publikation dänischer Musik
In "Particles of the Space" (1995) geht es um Gefühl von Spannung, Drang nach Klimax, nicht aber ganz so wie aus Beethoven und der Romantik tradiert mit allmählicher Aufbau und Triumph, sondern die Energie soll sich ansammeln, ballen und dann zentrifugal, explosionsartig ins Weite führen, wo kleine Partikeln umherschweben. Ein Text erklärt das näher. Das Spiel wird so in raffinierter Weise bestimmt durch das Interaktive, nicht durch eine Vorstellung von einer "Satz".
Das ist auch der Fall bei "Schutzinsel" von Niseema Munk-Madsen (2001): man spielt "Runden" (Abschnitte) ad lib. Dabei beginnt immer einer, und die anderen wählen "in Relation dazu". Also immer schnelle Entscheidungen - die Frage, "möchte ich jetzt anfangen??" dringt sich auf, nach einer Sekunde von spannungsvollem, gemeinsamen Warten stellt sich vielleicht die Frage erneut, und dann, "wozu habe ich jetzt am meisten Lust?".
Die "Plus-Minus-Notation" die von Stockhausen stammt, kann komplexe Transformationen
mit einfachen Mitteln darstellen. In selbstgewählten Parametern wie Dynamik, Tempo,
Register und mehr verändert man die Vorlage bei jeder Wiederholung. Jørgen Lekfeldt hat sie
in vielen Werken verwendet, oft mit anderen Notationsformen abwechselnd - siehe Beispiel
aus "Forår" (Frühling, 1977). Das kann nach meiner Erfahrung Forderungen an den Musiker
stellen, die das improvisatorische begrentzt, weil viel Energie darin investiert werden muß,
"richtig" zu spielen. Das besagt natürlich nichts darüber, wie es im Zusammenhang dialektisch
zu Abschnitten mit mehr Freiheit stehen kann. Nun, für Stockhausen war das anders - die
Erfahrung damit als Komponist inspirierte ihn gerade dazu, in den textnotierten Stücken
noch offenere Formulierungen zu
verwenden.
In Mantra-Spiral (1975) hatte Jørgen Lekfeldt das
Prinzip indessen umgedeutet. Er verweilt bei den einzelnen Schritten - und die Transformation
geschieht auf den Prämissen des Musikers, weil mechanisches Wechseln vermieden wird, das
Gefüge wird zudem interessanterweise noch komplexer, weil die Veränderungen kumulativ
sind. Insgesamt sechs Parameter werden ins Spiel gebracht, und soweit ich erinnere fühlte es
sich nicht einmal sehr schwierig an!
© Die Gesellschaft für die Publikation dänischer Musik
Strukturen "improvisationsfähig machen durch Ausdehnung" könnte dies Prinzip heißen. Das scheint ja stark dem oben angedeuteten "Intuition stimulieren durch Herausforderung" dialektisch gegenübergestellt zu sein. Ruhiges Überblick und Wachheit zugleich, beides brauchen wir!
Das Ausdehungsprinzip manifestiert sich auch in einer für mich wichtige kompositorische Entdeckung. Ich war fasziniert u.A. von der polnischen Aleatorik, wie bei Penderecki und Lutoslawski, wo kleine Reihen von ganz unterschiedlichen Elementen wiederholt werden und Strukturen mit schnellen Mikrobewegungen entstehen. Die Erfahrung aus der freien Improvisation, die richtige Zeitpunkt für den Einsatz abzuwarten, nützte ich in Mimesis I (1974). Wieso sollte diese schöne Erfindung aleatorischer Reihen immer zu erstarrten mechanischen Wiederholungen führen? Zehn Elemente, Pausen dazwischen; nichts wiederholen, bevor alle Elemente einmal in freier Reihenfolge kurz benutzt geworden sind.
In Postcard-Music (1976) ist was ähnliches einfach ausgebaut.
Die Komposition nach den Erfahrungen mit Improvisation zu modellieren ist auch ein Prinzip für Frameworks (2000-02; das Beispiel zeigt etwa ein Drittel aus einem der 10 Stücke), hier waltet aber auch das Herausforderungsprinzip: vieles ist frei, doch die Improvisation muß durch vielerlei Formen von "Engpässen" hindurch.
© Die Gesellschaft für die Publikation dänischer Musik
OFFENE KOMPOSITION ALS ERZÄHLUNG
In meiner Unterricht von "Intuitiver Musik" gibt es sowohl Improvisationsübungen, die auf Musikerfähigkeiten freier Improvisation zielen als das Praktisieren von eigenen, offenen Kompositionen. Im Laufe des Studiums gibt es damit drei Kurse, und auf dem ersten und letzten machen wir eine große Runde, in welcher alle eine solche Komposition vorlegen.
Die Musiktherapie-Studenten sind ja für seriöse kreative Aktivität sehr motiviert, doch die freie Improvisation kann auch herausfordernd sein. Mit den Kompositionen - "Improvisationsvorlagen", nennen wir das oft (7) - gibt es weniger von solchen Erfahrungen von Provokation. Es sprudelt immer von Ideen, und manchmal sagen welche, jetzt können sie diese Musik besser verstehen und damit zurechtkommen. Es scheint da von Bedeutung zu sein, daß sie die Musik mit anderen Dingen verbinden können. Eine "programmmusikalische" Tradition hat sich quasi von selbst entwickelt: man verbindet Zeichnungen, Überschriften und Texte mit näheren Anweisungen, und Ausgangspunkt ist normalerweise, daß der Verlauf irgend eine Geschichte darstellt. Das ist so gekommen ohne daß ich eigentlich dazu aufgefordert hatte, sieht also aus wie eine gewisse "volkstümliche" Neuformulierung der Avantgarde. Es geschieht da eine wunderbare, kollektive Erforschung des Materials. Begriffe wie Klangfarbe, Dichte (mit denen ich praktische Übungen mache) und vieles mehr werden in sehr allgemeinverständlicher Weise konkretisiert - z.B. variierende Dichte durch unterschiedliche Fisch-Schwarmen mit verschiedener Zahl und Größe der Individuen, oder durch eine Schar von Vögeln die sich zerstreuen und wieder zusammenkommen; helle und dunkle Klangfarben können Leben und Tod illustrieren, oder das Aufhellen nach einer traurigen Situation soll durch Klangfarbenwandlungen illustriert werden.
Um eine interessante Spielsituation und eine interessante Musik gestalten zu können müssen die Geschichten aber gut musikalisch konkretisiert sein. Es folgt hier einige Beispiele. Das erste, von Perla Leifsdóttir (2002), stellt eine Fabel da: Engel und Teufelchen begegnen sich, daraus entstehen zum Teil neue Verbindungen, zum Teil Frustration! (8) Die Musiker (max. etwa 10) wählen am Anfang individuell ohne Absprachen, ob sie Engel oder Teufelchen sein wollen. Interessant war hier u.A., daß die Veränderungen in den polyphonen Schichten wirklich zu hören waren. Wie aus den Spezifikationen hervorgeht, hat man bei uns keine Angst vor Collagen, worin Tonales und Atonales direkt einander gegenüberstehen. Und das Lächeln ist nicht an einem festen Puls gebunden...
ENGEL: tonal, Puls, helle, reine Harmonien | KLAGEND: hohe Töne, staccato | |
K A O S
Atonal Kein Puls |
LÄCHELND: Mittelregister,
keinen festen Puls | |
TEUFELCHEN: tonal, Puls, tiefe "würzige" Harmonien | FLUCHEND: tiefe Töne,
staccato |
Das nächste Beispiel von Line Normann (2002) hat als Hintergrund, daß ich zu "unlogischen, poetischen, formellen" Ideen auch aufgefordert habe, die keine zusammenhängende Geschichten sein müßten. Daher ist eine gewisse Verfremdung in diesem Stück zu spüren, die gerade Raum für eigene Associationen schafft. (9)
"GEISTESVERWIRRUNG" | "ABGEBROCHEN" | "SUCHEN" | "ENTSCHLUß" |
- dichte Cluster, vokal | - Puls (individuell) | - einen Ton wählen, bei demselben bleiben | - die vorigen Elemente behalten und mischen |
- das ganze Register | - staccato | - variierendes Tempo | - überzeugender / standhaftiger Ausdruck |
- hysterischer Ausdruck | - schnelles Tempo | - spielender / forschender Ausdruck | - die Elemente werden gesungen /gespielt als Verläufe fünfmal |
Was ist eine gute Vorlage für improvisierende Musiker? Eine die gut zu den Musikern paßt. Ob dasselbe Stück allzu offen, sehr frei, gerade recht oder zu auskomponiert ist hängt ganz davon ab, wie sehr man an Notenlesen gewöhnt ist und wie angewohnt freie Formen von Improvisation sind oder nicht. Da gibt es wirklich unterschiedliche Kulturen, und das ist ein Spannungsmoment bei neuen Kursen oder Proben mit unbekannten Musikern!
Simon H. Fell's Unterscheidung zwischen "invasive" und "non-invasive" (10) struktuelle Strategien pointiert das. (11) Im ersten Fall muß man die konkreten, detaillierten Anweisungen die volle Aufmerksamkeit schenken - typisch wie beim Lesen von komplexer Musik in traditioneller Notenschrift. Im anderen Fall ist genug Raum für die Entfaltung eigener, kreativer Kräfte. Fell's Begriffpaar könnte eine neue Wertung von offener Komposition signalieren. Einige Musiker haben Skepsis gegen solche Komposition geäußert. Vinko Globokar beschrieb schon 1970 wunderbare non-invasive Strategien (12), gab die Bestrebung aber auf nach einem einzigen, nicht geglückten Versuch (13) - ein geschriebenes Stück sollte allmählich ins ganz freie führen. Seither war seine Tätigkeit dualistisch: entweder festgelegte Komposition oder freie Improvisation. Das kann schwerlich anders als durch einen Konformitätsdruck in der Musikkultur erklärt werden. (14) Auf die Dauer geht es aber nicht, die kreative Vermittlung so auszuklammern. (15) Es bleibt uns nur noch, auf Qualität und Stimmigkeit zu bestehen.
Das "invasive / non-invasive" Begriffspaar richtet sich relativ nach den Musikern. Was "invasive" für den einen heißen würde, könnte "hilfreich" für den anderen sein! Die Beispiele, die ich in diesem Artikel beschrieben habe, würde ich "offene Kompositionen" nennen. Denn was ist Komposition? Etwas, daß zusammengesetzt ist (etwa aus mehreren Elementen (Lat. com-ponere)) und was als Spielvorlage die Musik entscheidend beeinflußt. Essentiell ist, finde ich, daß dabei eine gewisse Reflektion, eine bewußte Planung am Werke ist, die durch Unabhängigkeit von der Realzeit zustande kommt. Ob das Resultat nun traditionell notiert ist oder nicht und mit wievielen Details, auf Papier oder Festplatte, das ist doch unwichtig für den Begriff der Komposition. (16) Sinnvoll ist es aber, "offene Komposition" zu sehen als eine etwas andere Kategorie als die der gewöhnlichen neuen Musik. Es ist indessen immer noch die Begrifflichkeit, die es so interessant macht, mehrere Versionen des selben Stückes zu hören. Man sollte das auch bei den Konzerten dem Publikum zeigen und solche Stücke "wiederholen".
Für mich gibt es eher einen prinzipiellen Gegensatz zwischen das Spielen von sowohl offenen Kompositionen als freien Improvisationen - und dann die ganz andersartig festgelegte, klassische Spielweise. Die Subjektivität, wozu z.B. eine Beethoven-Sonate oder das Blues-Schema auffordern, finde ich großartig, sie ist doch im Vergleich zu den freieren Formen gleichsam eingesperrt.
Das Improvisieren innerhalb einer offenen Komposition ist für mich vergleichbar einer Reise, über deren Richtung ich schon etwas weiß. Dennoch kann vieles neues passieren. In freier Improvisation soll ich / sollen wir die Richtung erfinden, was einen besonderen Reiz und Wert ausmacht, zugleich besteht auch auf lange Sicht die Gefahr, daß Gewohnheiten sich einschleichen. Dann kann es wieder ganz gut sein, einer Richtung zu folgen, die jemand anderes vorschlägt, um Neues zu erfahren.
Die festgelegte Form hat, wie bekannt, eigentlich eine historisch und etnisch begrentzte Gültigkeit. Die Wiener Klassik schaffte zwar die barocke Verzierungspraxis ab, in der romantischen Musik gab es aber noch Soloimprovisationen, und die Organisten machten auch seither brav weiter - die Norm waltet trotzdem immerhin im Bereich der klassischen und neuen Musik, man hat z.B. retrospektiv das Improvisieren von Solokonzert-Kadenzen weggelassen, und ein Mehrzahl der Musiker sind nicht gewöhnt zu improvisieren. Im Jazz war das Festlegen immer etwas relativ.
Nicht alles, was untraditionell notiert ist, ist offen für Improvisation. Viele experimentelle Kompositionen von Cage und Wolff finde ich zwar sehr interessant zu spielen, sie sind aber deshalb keine "offene Kompositionen" bezüglich Improvisation, obwohl sie das sein könnten bezüglich Form.
Da glaube ich auch nicht, daß freie Improvisation im Prinzip dasselbe wie Komposition ist, wie ein eleganter Ausdruck wie "instant composition" vortäuschen könnte. Gerade die Reflektion, die Begrifflichkeit, die übrigens von der visuellen Schrift stark stimuliert wird, weil man vieles in einem Blick überschauen kann, trennt die beiden Arbeitsweisen. Beim Improvisieren ist der Prozeß fließender und mehr von Intuition geprägt, kann daher Komplexes zusammenfassen und bearbeiten, wie es in Begriffen kaum möglich wäre. Existiert das Denken denn gar nicht beim Improvisieren? Doch, aber mehr im Hintergrund. (17)
Daß eine institutionell erfolgreiche "Gegenreformation" einsetzte, nachdem eine Öffnung der kompositorischen Schreibweisen eine auffallende Tendenz in den sechziger bis siebziger Jahren bei uns in Europa wurde, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Norm des "alles festlegen", in ihrem Kontext gesehen, längst obsolet und unsinnig geworden ist. Nicht nur ist Teamwork anderes und freier geworden seit den Zeiten von Papa Haydn, die alte Form ist aus ethischen Gründen fragwürdig geworden und die menschlichen Ressourcen werden schlecht damit genützt. Nicht zuletzt die musikalische Kunst als Erkenntnis von Zusammenhängen leidet darunter. Die neue Musik, die sonst Komplexität so sehr liebt, bleibt da bei dem allzueinfachsten Modell: der Weg von der Partitur zur Aufführung als direkte Zuordnung, A soll wie A klingen, B wie B, usw. - statt eine Formel oder ein Algoritmus zu sein, der Mehrdeutiges in sich einschließt. Bei Konzerten mit detailliert geschriebener Musik empfinde ich jetzt oft eine gewisse Müdigkeit gegenüber diese Monotonie - bei Improvisation ist eine andere Spannung in der Luft. (18) Mehrere Komponistenkollegen kann ich mit öffentlichen Äußerungen zitieren, daß sie an der traditionellen Schreibweise nicht so richtig glauben, Alternative aber auch nicht für realistich halten. (19) Ist das nicht vergleichbar einem Musiker, der sein Instrument nicht mag, trotzdem aber weiterspielt? Können Komponisten sich leisten, neue Lösungen nicht einmal zu suchen?
Ein Unwesen ist die lästige Problematik der Urheberrechte. Erstens werden in einigen Nationen (darunter, wie ich leider erfahre, Deutschland) Improvisationen nicht von der GEMA und entsprechende Organisationen anerkannt und der Kampf dafür muß noch organisatorisch geführt werden. Werke von mehreren Autoren kann man doch hoffentlich anmelden. Zweitens sind einige Musiker deshalb kritisch zu offener Komposition, weil nur der Komponist, nicht die Musiker, die für das Resultat ebensosehr mitverantwortlich waren, honoriert wird. Dies Problem läßt sich doch mindestens mit einiger Flexibilität bewältigen. Ein Modell, daß ich empfehlen kann, ist z.B. daß der Komponist die Aufführung als eine Version des Werkes mit den Musikern als Arrangeure anmeldet.
Nun gibt es auch etwas, was man "Minimalvorlagen" für Musik nennen könnte. Da könnte es sein, daß Worte wie "Konzepte" und "Improvisationsvorlagen" gut paßten. Darunter könnte Ausgangspunkte wie 'eine Farbe spielen', einfache Formen von kollektiven Verabredungen vor dem Spielen und vielleicht für einige Musiker so ein graphisches Stück wie das oben zitierte Madison Music kommen, obwohl wir bei uns versucht haben, das zu spielen "was da steht". Die Vorlage beeinflußt manchmal vielleicht die Musik in entscheidender Weise nicht, dient als Katalysator. Die "scratch music" und "activities" des Scratch Orchestra (ausdrücklich in Kontrast zu "Compositions" und "improvisation rites") ist auch ein mögliches Beispiel. (20) In den "Vorschlägen" von Matthias Spahlinger ist das Katalysatoraspekt und die relative Natur der Vorlagen ausdrücklich betont. (21) Die Autorenschaft wird nicht betont, der Gebrauchsaspekt ist im Vordergrund, eine gleichsam "volksmusikalische" Haltung. (22) Sind das dann noch Kompositionen im hier diskutierten Sinne ? Vielleicht nicht. Trotzdem könnte das eine ganz wichtige Form des Musikmachens sein.
***
Aus den Sieben Tagen. Kompositionen Mai 1968, Wien (Universal Edition UE 14790). Für kommende Zeiten.
17 Texte für intuitive Musik., Kürten (Stockhausen-Verlag) 1970. Siehe dazu mein Artikel: "Festlegen, Umreißen,
Andeuten, Hervorrufen. Analytisches zu den Textkompositionen Stockhausens", MusikTexte 72, Nov. 1997. Auch
bei IIMA zu lesen: http://www20.brinkster.com/improarchive/cbn_festlegen.htm
Graphik IV für 4 bis 12 beliebige Instrumente. Spielpartitur (Graphik). London/NY (Schott Workshop Nr. 8),
1972.
Die Gruppe wurde von Jørgen Lekfeldt und seine Klavierlehrerin, Elisabeth Klein, gegründet - ursprünglich um
ihr Duo, das Stücke aus den Stockhausen-Sammlungen spielte, zu erweitern. Mitglieder wurden hauptsächlich weitere
Musikstudenten aus der Universität Kopenhagens. Für längere Zeit wirkten Niels Rosing-Schow und Anders Keiding mit, und es gab viele Konzerte. Anfang achtziger Jahre bestand die Gruppe aus
Lekfeldt, Lene Duus, Ivan Vincze und ich. Diese Konstellation spielte bei den 6. Tagen neuer Musik in Weimar
1993 und noch in Kopenhagen im November 2001.
Mehr über diesen Begriff und seine mögliche Definition in meinem Artikel "Intuitive Music and Graphic
Notation. Two Musical Training Disciplines within Music Therapy Education and their Theoretical
Backgrounds", Music Therapy Monographs from Aalborg University #1, Aalborg 1999, Col Legno . Auch im
Internet: http://www20.brinkster.com/improarchive/cbn_legno3uk.htm - siehe Abschnitt: "Theoretical backgrounds" - "The
idea of an 'intuitive'music'".
Vergleiche die Spielanweisung, die hier vollständig nach dem Manuskript wiedergegeben wird:
cum processio tum missa non est
... für drei ...
Kommentar:
Das Stück ist für drei Spieler beliebiger Instrumente geschrieben, doch könnte es allenfalls auch in größerer Besetztung realisiert werden.
Alle Spieler beginnen zusammen mit der Struktur 1 in der Blattmitte. Jeder Spieler geht dann einen eigenen Weg durch das Labyrinth, wobei nur Schritte in Pfeilrichtung erlaubt sind. Der Spieler darf sich keinen Weg zum vornherein präparieren, vielmehr soll er erst während dem Spielen in Hinsicht auf das Ganze entscheiden, wann und in welcher Richtung er weiterschreiten will. Die Gesamtdauer des Stückes wird entweder verabredet (nicht kürzer als ca. 10 min.), oder jeder spielt so lange, wie er für richtig hält. Dabei soll man keinesfalls bestrebt sein, möglichst viele - oder gar alle - Stationen zu erreichen.
Zu den 4 Zonen:
1 ist die thematische Struktur im engern Sinne. Sie ist bestimmt durch die drei Momente a), b) und c).
2 ist die Modifikation der Struktur 1. Wird z.B. als erster Schritt eine Modifikation von a) erreicht, ersetzt das Moment a) von 2 das a) von 1. Diese Modifikation von a) wird für die weitern Schritte in 2 beibehalten, bis das Moment a) weiter verändert wird. Gestrichelte Pfeile bedeuten, daß die betreffende Modifikation gemacht werden kann, ohne daß man diesen Schritt wählt. Von "tacet" aus sind Schritte nach 1, 3 (beliebige Struktur) und 4 möglich.
1 und 2 = A = thematische Struktur
3 Die Angaben in 3 steuern improvisatorische Strukturen. Sie sind unabhängig von A, d.h.: beim Schritt von 2 resp. 1 nach 3 werden die drei Momente aus A nicht mitgenommen. %-Zahlen sind statistische Bestimmungen der Zeitstruktur. Die eingerahmten, graphischen Strukturen sind als Symbole, oder als Momentaufnahmen einer fiktiven Struktur zu verstehen.
3 und 4 = B = nicht-thematische Struktur.
Ein weiteres Stück von Keller ist in Hans Kumpfs Buch: Postserielle Musik und Free Jazz,
Rohdorf (rohdorfer musikverlag) 1981 zu sehen. Es enthält auch Abschnitte über "Verbalpartituren" und "Grafik".
Das kommt vielleicht dem Wort "Konzept" nahe - siehe die Diskussion am Endes des Artikels.
Siehe die farbige Version hier im Internet-Version ... in der Zeitschrift ist sie schwarz/weiß wiedergegeben.
Weitere Kompositions-Beispiele von meinen Studenten sind zu sehen im obengenannten Artikel (siehe Note
4), Abschnitt "Intuitive Music - Training".
Englische Aussprache!
"Report on the Composition of Improvised Music No. 4", Rubberneck 28 [1999], auch im Internet:
www.btinternet.com/~rubberneck
"Vom Reagieren", Melos 2, 1971. Französische Originalversion (einzige mit Notenbeispielen): "Rèagir...",
musique en jeu 1, 1970.
Diese wichtige Information steht soviel ich weiß nicht in den Schriften Globokars, es kommt darin die
Problematik in indirekter Weise zum Vorschein. Er hat das mündlich den Teilnehmern seines
Workshops in Luzern 1990 kommuniziert. Denis Levaillant berichtet auch darüber in seinem Buch L'Improvisation musicale,
Biarritz, Éditions Jean-Claude Lattés (Serie Musique et Musiciens), 1981.
Die Ansicht, die Rolle des Komponisten ist dubiös und vergleichbar der eines Unternehmers hat sogar eine
gewisse Verbreitung gefunden. "Hierachie unter dem Deckmäntelchen der Freiheit", so hat Peter Niklas Wilson
den Begriff "gelenkte Improvisation" im Verdacht (Hear and Now. Gedanken zur Improvisierten Musik, Hofheim
(Wolke Verlag) 1999, S. 23). Gleicherweise Couldry (Turning the Musical Table. Improvisation in Britain 1965-1990, Rubberneck 19, 1995 S. 26): "composers by stipulating areas of freedom for the performer only succeeded
in defining more precisely the limits of the performer's service". Bei Eddie Prévost (No sound is innocent. AMM
and the practise of self-invention. Meta-musical narratives. Essays, Matching Tye (Copula/Matchless), 1995, S.66)
nimmt das Problem gar das Ausmaß eines globalen Kulturkampfes an: "There is no happy meeting point between
the two worlds because ultimately they represent entirely different world views...As well being the enforcement
of musical property rights, the composition is a powerful agent of possesive individualism in general".
Prügelknabe par excellence ist wohl Stockhausen. Bestimmend dafür scheint, daß man das Meditative vielleicht schon an sich und darüber hinaus die Rolle des "spiritual leader" (Couldry S. 27) dubiös findet. Wie sehr man ihn als Guru oder bloß als Inspirator sieht, hängt doch von einem selber ab. Über die Uneinigkeit in der Gruppe anläßlich Stockhausens Klangregie, die die kollektiv geschaffene Ergebnisse individuell geprägt haben sollte war viel Gerede. Das besagt ja aber überhaupt nichts über die Beschaffenheit der Kompositionen und was für Erfahrungen andere Gruppen damit haben können.
Bei den erwähnten Autoren lässt sich den Standpunkt völliger Ablehnung von Komposition in Verbindung mit Improvisation denn auch wegen schweren Widersprüchen kaum noch aufrechterhalten. Nachdem Couldry auf Seite 27 die Attitüde von Stockhausen ordnungsgemäß kritisiert hat, verrät er doch zwei Seiten später, daß dieser die Bedeutung kollektiver Intuition "better than anyone" beschrieb. Wilson fängt scheinbar als Gegner an und spricht von "faulen Kompromissen" (S.23) im erwähnten Buch. Das steht aber in einem früheren Artikel welcher unverändert abgedruckt wurde. Sonstwo im Buche ziitiert er eine Menge graphische Spielvorlagen, er bespricht dies als Thema, und behandelt sogar "Improvisatorische Regelsysteme" in einen kleinen Kapitel für sich - die Ablehnung wird so im Laufe des Buches durch Analyse der Sache abgelöst! In einem wesentlichen Artikel vom selben Jahr "Von der Romantik des Jetzt - und ihre Grenzen. Aspekte des Formdenkens in improvisierter Musik" (Sanio, Sabine/Scheib, Chr. (ed.): Form - Luxus, Kalkül und Abstinenz: Fragen, Thesen und Beiträge zu Erscheinungsweisen aktueller Musik. Saarbrücken (Pfau Verlag), 1999) leistet er weiter sehr relevante Beiträge zur Beschreibung ausgerechnet offener Kompositionen von Braxton, Zorn, Wolff und dirigierter Improvisation. - Selbst Prévost gibt zu, daß es über Cardew's Treatise "hot debates" gab (S. 13), und dies Stück sei mindestens akzeptabler als die Stücke von Stockhausen, weil sie "resisted individual attempts to impose their will upon events".
Diese letzte Aussage ist aufschlußreich: es geht hier in Wirklichkeit über Geschmacksfragen und Unterschiede zwischen zentraleuropäischen und angelsächsischen Haltungen. Zentraleuropäer haben immer noch ein gewisses Geschmack für greifbare Strukturen, während die angelsächsische Betrachtungsweise mehr zur indeterminierter Aktivität tendieren. Wie auch bei Couldry, wenn er beschreibt, daß Stockhausen und Cardew zwar recht gleiche meditative Ideale hatten, Cardew aber der bessere ist, weil er "an appropriate degree of irony" hatte (S.27). Was "appropriate" ist, ist relativ, nicht absolut! (Das Ironische bei Cardew scheint mir übrigens aus seinen Schriften und Werken nicht ablesbar zu sein.) Neuere Tendenzen in England deuten auch darauf hin - Chris Burn's Ensemble, Gruppe IST, London Improvisor's Orchestra und noch andere, die mit Improvisation und Strukturen arbeiten. - Die Existenz erstarrter, akademischer Komposition ist natürlich kein Grund dafür, für immer die Idee des Planens von Musik zu tabuisieren, im Gegenteil. Die bloße Existenz einer Aufnahme macht aber aus der freien Improvisation keine Komposition - siehe unten - obwohl man vieles daraus lernen kann. Eine sehr aufhellende Schrift über Zeitauffassungen und die Funktion des Denkens, Vorstellens und der Intuition beim Improvisieren ist "A New Look at Improvisation", Ed Sarath, Journal of Music Theory 40:1, spring, 1996. Und ein "klassisches" Zitat dazu: "Considering the developments which have taken place in extending the physical parameters of sound within recent years it seems reasonable to consider the potential of the human mind ... to consciously extend it further into the actual generation of the work seems to me to be an inevitable and important step; a step which not only expands the potential of the "environment" of relationships (the work) but also the communicative potential, its inherent multiplicity of "meaning". Rather than diminish the responsibility of the composer or anyone else, it expands and intensifies all of the dimensions of creating and perceiving" - Earle Brown, article in Darmstädter Beiträge zur neuen Musik X, Mainz 1966 (Form in New Music), S.58. Bent Lorentzen, "Orgelmusik I", Dansk Musiktidsskrift, 1986/87: "Der Grund dafür, das so viele Komponisten in den 60ziger und 70ziger Jahren mit der Notation experimentierten, ist ohne Zweifel ein Wunsch, eine Notation zu finden, die der ursprünglichen Idee ähnlicher ist als traditionelle Noten ermöglichen...Unmittelbar sollte man glauben, daß die Musiker Abneigung gegen die Noten fühlten, die oft ganz irrsinnig pedantisch sind". Das Anliegen des Komponisten in diesem Artikel war indessen, traditionell notierte Revisionen von ursprünglich grafisch notierten Werken aus pragmatischen Gründen zu rechtfertigen, weil sie vermeintlich bei den Musikern populärer seien! (Eine ganze Debatte folgte auf diesem Bekenntnis - u.A. war einer der Musiker sehr für die grafische Versionen). Palle Mikkelborg: "I realise that I feel like being more philosophic than, well, all these notes...." - "But, then why not give the bigband some messages or designs and leave the rest being up to the musicians theirselves?" - "Yes, in fact I thought about that ... But unfortunately, I do not believe in it." (Valdemar Lønsted: "Dette er ikke en koncert". Interview. P2Musik nr. 1, Januar 2000). In einem ähnlichen Dilemma scheint auch Mathias Spahlinger befangen zu sein, wie es ausführlich hervorgeht im Interview mit Wolfgang Stryi, "Die fortgeschrittenste Entwicklung", MusikTexte 86/87, November 2000. Cardew, Cornelius (ed.): Scratch Music. MIT Press (MIT 239 Music) 1974. Parsons, Michael: "Scratch Orchestra 25th Anniversary", Resonance (publ. by London Musician's Collective), 3:1, winter 1994. Vorschläge. Konzepte zur Ver(über)flüssigung des Komponisten. Wien (UE No. 20070 - Rote Reihe 70), 1993. Im Vorwort heißt es, sie sollen "nichts haben von strikter Verkehrsordung", dagegen "veränderbar" sein. Ein weiteres Begriffspaar, das auch mit Abgrenzung zur Komposition zu tun hat, ist Übungen contra Stücke.
***Carl Bergstroem-Nielsen's Homepage.