Martin Deuter, Stuttgart
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Polarity Conditions |
Summary: The present text is a draft of a research project on the systematization of improvisation. It is for this reason that the system is not being represented in full detail, but rather in some of its major aspects. Besides the many different points of view from which improvisation can be looked at, the following main questions are to be put here:
How do we find our way through an improvisation? How can we put up ways of describing that help us understand what exactly happens in the act of improvisation? Within that question there is a particular interest in the transition from musical material to psychological terms, the link between experience and understanding and the link between production and meaning. The considerations at issue are related to improvisation in the field of music therapy, but they do have an equal significance for the didactical imparting of improvisation. In the personal taking possession of them, properties of the musical material acquire their meaning. Developmental processes in music are experienced as movement. Movement is based on the polarity of different forces which are complementary and related to each other. The description of polar factors which complement each other and which produce the concrete shape of the improvisation through their relatedness and exchange is central for these considerations. In different areas of musical material (like rhythm, melody, silence etc.) the polarity conditions in question are named. When these are known, an informedness about the improvisation results. Extensive exchange between the factors in question that determine the form make possible a musical taking shape which feels alive. Pathological form phenomena of psychic processes are reflected in a restricted or displaced exchange of the poles in question. The systematics of polarity conditions can serve to expand the perception capabilities for the improvisation. Zusammenfassung: Der vorliegende Text ist der Entwurf einer geplanten, größeren Forschungsarbeit zu einer Systematik der Improvisation. Damit hängt es zusammen, dass die Systematik hier nicht in aller Ausführlichkeit, sondern nur in einigen Aspekten vorgestellt wird. Neben den vielen verschiedenen Gesichtspunkten, unter denen die Improvisation betrachtet werden kann, soll es hier in der Hauptsache um folgende Fragestellungen gehen: Wie orientieren wie uns innerhalb der Improvisation, und wie kommen wir zu Benennungen, mit deren Hilfe das Geschehen in der Improvisation verstehbar wird. Von besonderem Interesse ist dabei der Übergang vom musikalischen Material zur psychologischen Benennung, der Zusammenhang von Erleben und Verstehen, von Produktion und Bedeutung. Die Überlegungen beziehen sich auf die Improvisation im musiktherapeutischen Handlungsfeld. Sie haben in gleichem Maße Bedeutung für die didaktische Vermittlung der Improvisation. |
Das musikalische Material der Improvisation
In der musiktherapeutischen Improvisation ist das Spiel des Therapeuten bezogen auf das vom Patienten angebotene Material; die im gemeinsamen Spiel entstehende Produktion wird zum Ausgangs- und Drehpunkt der Behandlung. Die gemeinsame Improvisation „verwirklicht die grundlegende Organisation der seelischen Formenbildung” (GROOTAERS 1994, S.26). In der Improvisation vermittelt sich ein Eindruck der Lebensmethode des Patienten. Bei dem Versuch, seelische Formenbildungen in der Improvisation zu verstehen, geht es um die Frage, worauf sich unsere Aufmerksamkeit richten soll. Was sollen wir beschreiben und benennen: die Musik, unser Erleben, die aufkommenden Gefühle und Assoziationen...? Worauf sollten sich, im Zusammenhang von Phänomen und Erleben, die Benennungen beziehen, die zu einem Verständnis der Improvisation verhelfen können? Welche Eigenschaften müssen die dabei verwendeten Begriffe haben? Weiterhelfen werden uns Begriffe, in denen eine Verbindung bestehen bleibt zwischen dem musikalischen Material (also dem ›Stoff‹, aus dem die Musik ist) und seiner psychologischen Auslegung. Dabei müssen die Begriffe so beschaffen sein, dass mit ihnen beschreibbar wird, was in der Improvisation zwar mit großer Eindringlichkeit erlebt wird, dabei aber auch in einer „sensiblen Schwebe” bleibt, nicht genau festzulegen ist, sich „im Zwischenbereich, im Austausch, unter den Bedingungen des Materials und der Situation” ereignet (WEYMANN, 2000). Wie sich eine Improvisation gestaltet, wird nicht nur von den Intentionen und Wünschen des Spielers bestimmt, sondern stützt sich auch auf Eigenschaften des musikalischen Materials, also auf den „Stoff”, mit dessen Hilfe wir unsere Absichten verwirklichen und uns dem Absichtslosen öffnen. Den Eigenschaften des musikalischen Materials begegnen wir, wenn wir uns folgende Fragen stellen: Worauf stützt sich in der Improvisation das Erleben von Begegnung und Kontakt, von gelungener Form, geglücktem Schluß - oder im Gegensatz dazu: wie ist eine Improvisation gestaltet, von der wir den Eindruck haben, es kommt keine Verständigung in Gang, die Bemühungen um eine Entwicklung sind vergeblich? Aus welcher Verwendung der musikalischen Mittel erwächst das jeweils erwünschte oder erträgliche Maß an Zusammenhalt und Kontinuität, an Dauer und Langeweile, an Wechsel, Veränderung und Entwicklung, Zersplitterung und Auflösung, Belebung und Beruhigung? Bei dem Versuch, Bedingungen der Improvisation zu verstehen, gelangt man also zu der Notwendigkeit, sich über den „Stoff” Gedanken zu machen, mit dem wir in der Improvisation umgehen. Es ergibt sich die Frage nach den Eigenschaften des „musikalischen Materials” und danach, welchen Anteil die Materialaspekte am Zustandekommen von Bedeutung und Deutbarkeit der musikalischen Interaktion haben. In den Materialeigenschaften der Musik soll daher nach Gesetzmäßigkeiten gesucht werden. Das Verständnis solcher Gesetzmäßigkeiten kann dann in zweierlei Hinsicht hilfreich sein: Wir sind in der Lage zu beschreiben, wie sich Improvisationen in ihrem Verlauf strukturieren und wie sich das Verhältnis der Spieler untereinander gestaltet. Verlaufs- und Beziehungsaspekt sind dabei in gegenseitiger Einwirkung aufeinander bezogen und beide an der Bildung der Improvisations-Gestalt beteiligt. Überlegungen zur Bedeutung des musikalischen Materials stehen nun in einem Spannungsfeld zweier, unterschiedlicher Gesichtspunkte: Müssen wir, wenn wir die Improvisation verstehen wollen, von festen Zuordnungen und Bedeutungen des musikalischen Materials und seiner Verwendung ausgehen, oder sind es nicht gerade die Offenheit und die Nicht-Festlegbarkeit der musikalischen Zeichen, die es uns ermöglichen, die Improvisation therapeutisch (und auch künstlerisch) zu verwenden? Wie müssen wir uns also das Verhältnis zwischen subjektiver Verwendungsmöglichkeit der Musik und objektivierbarer Bedingung im musikalischen Material vorstellen? In der Bewertung dieser Frage sind in der musiktherapeutischen Praxis viele unterschiedliche Haltungen zu finden. Zwei gegensätzliche Positionen lassen sich so skizzieren: Es gibt die Vorstellung, die Verwendung der musikalischen Möglichkeiten beruhe auf feststehenden oder immanenten Eigenschaften des Materials, in deren Wirkung die Spieler in gleicher Weise einbezogen sind. Aus solchermaßen „feststehenden” Eigenschaften des Materials wären dann Wirkung und Bedeutung der Musik erklärbar. In einer entgegengesetzten Sichtweise wird in der Musik vor allem die Möglichkeit gesehen, Beziehung und Entwicklung in Gang zu setzen. In der reflektorischen Betrachtung der Improvisation beziehen sich die Benennungen in dieser Sichtweise ausschließlich auf psychologische Kategorien. Der Anteil des musikalischen Materials am Zustandekommen der Bedeutungen wird ausgespart, die Musik spielt nur noch eine Rolle als Auslöser von Gefühlen und Assoziationen. Die zuerst genannte Position würde eine Einbindung in archaische, quasi körperliche Wirkungszusammenhänge voraussetzen, die das Erleben einer benennbaren Bedeutung und die Entwicklung einer Symbolik überflüssig machen. Dies entspricht allerdings nicht unserer Lebenswirklichkeit eines offenen Zusammenhangs vielfältiger und widersprüchlicher kultureller Prägungen im Bereich der Musik. In der zweiten Position dagegen, in der hauptsächlich die psychologische Dimension gesehen wird, bleibt die Bedeutung des Materialbegriffs lediglich ausgespart. Diese Position hat DIETMUT NIEDECKEN (1988) im Blick, wenn sie in musik-therapeutischen Zusammenhängen eine „Verdrängung des Materialbegriffs” konstatiert. Sie kritisiert, dass in der Musiktherapie die Musik als „frei verfügbar” gelte und „als widerstandsloses entobjektiviertes Medium eingesetzt” wird, während in der Psychoanalyse die Sprache als das therapeutische Medium durchaus als „eines begriffen wird, das der Verbiegung durch das subjektive Erleben seinen spezifischen Objekt-Widerstand entgegensetzt” (a.a.O. S.30). Wird dem musikalischen Material die Fähigkeit abgesprochen, aufgrund eigener, objekt-ähnlicher Eigenschaften das Geschehen in der Improvisation mit zu beeinflussen, so nimmt man sich damit die Möglichkeit, begrifflich zu den Wirkungsbedingungen der Improvisation vorzudringen. Es entfällt außerdem die Möglichkeit der Einschätzung, auf welche charakteristische Weise jeweils mit dem Material umgegangen wird. In der Bewertung der Frage, welche Bedeutung dem musikalischen Material zukommt, soll hier ein anderer Standpunkt eingenommen werden: Materialaspekte der Musik gewinnen ihre Bedeutung, indem sie im Austausch gesehen werden zur individuellen Verwendung der Spieler. In unserer individuellen Art und Weise, mit der Musik umzugehen, begegnen wir einer „Tendenz des Materials”. (T.W. ADORNO, 1970) DIETMUT NIEDECKEN formuliert diesen Zusammenhang so: „Objektbestimmtheit des Materials und seine Aneignung durch das Subjekt (...) sind Voraussetzungen für das Zustandekommen einer musikalischen Deutung. Das musikalische Material wird in der subjektiven Aneignung zum Bedeutungsträger: Es gewinnt Gestalt als Symbol der Auseinandersetzung zwischen Subjekt und Objekt der Beziehungssituation: und zwar ist das Symbol Produkt einer (...) gelungenen Auseinandersetzung.” (a.a.O. S.101) Auch im Begriff des WINICOTT'schen Übergangsobjektes haben wir die Möglichkeit, den Objektcharakter des musikalischen Materials mit der subjektiven Verwendung in Verbindung zu bringen. „Das Übergangsobjekt (...) ist subjektiv bedeutsam und zugleich objektiv gegeben. Bedeutung hat es nur als vom Subjekt angeeignetes, aber die Bedeutung ist nicht (...) beliebig, sondern das zum Übergangsobjekt gewählte Material bestimmt in seiner Objektivität die Interaktionen des Subjekts mit.” (NIEDECKEN, S.23) Es wäre in diesem Verständnis die Musik selbst, die wir als Übergangsobjekt ansehen können (nicht etwa das Musikinstrument). Die Musik schafft einen Beziehungsraum, und wird gleichzeitig zum Symbol für den darin entstehenden Austausch der Spieler (vgl. NIEDECKEN, S. 112). Materialbereiche der Musik und Polaritätsverhältnisse Bei der Suche nach Gesetzmäßigkeiten innerhalb des musikalischen Materials geht es nicht darum, Festlegungen zu treffen. Statt dessen sollen Verhältnisse und Bedingungsgefüge innerhalb der Improvisation beschrieben werden, die sich aus der Verwendung des musikalischen Materials ergeben. Die Materialaspekte der Musik, das Objekt-Ähnliche der Musik, sollen also benennbar werden, und gleichzeitig soll damit eine Verbindung zum Erleben, zur subjektiven Aneignung des Materials beschrieben werden. Materialaspekte der Musik sollen hier im Zusammenhang sich polar ergänzender Wirkungskräfte, als Polaritäten gesehen werden. In der Formulierung dieser Polaritätsverhältnisse wird der Versuch unternommen, zu einer Systematik des musikalischen Materials und seiner Bedeutung in der Improvisation zu kommen. Wenn wir darangehen, innerhalb des musikalischen Materials verschiedene Bereiche unterscheiden zu wollen, so soll dabei nichts auseinander gerissen werden, was zusammen gehört. Vielmehr soll Unterschiedliches kenntlich gemacht und Wirkungszusammenhänge verdeutlicht werden. Meine Beobachtung zielt auf die Bedingungen, die in den musikalischen Phänomenen Klang, Rhythmus, Melodie, im Zusammenhang von Impuls, Form und Stille maßgeblich dafür sind, wie musikalisches Geschehen sich strukturiert und wie es erlebt wird. Musikalische Zusammenhänge erschließen sich uns zuallererst und unmittelbar als Bewegung. Es ist die Wahrnehmung einer Bewegung, die „die Vielfalt aufeinanderfolgender Töne durchzieht. Die musikalischen Zusammenhänge sind Bewegungszusammenhänge” (V. ZUCKERKANDL 1963, S.75). Bewegung aber beruht immer auf der Polarität unterschiedlicher Kräfte, die im jeweiligen Geschehen wirksam sind. Der Blick auf ein anderes (vielleicht verwandtes) Gebiet soll dies veranschaulichen: Aus dem Vorhandensein unterschiedlich warmer Luftschichten entsteht der Wind (ohne dass damit ein Anfangspunkt benannt wäre...). Der Wind sorgt für die weitere Veränderung und Belebung der (klimatischen) Verhältnisse. Voraussetzung für die so entstehende Bewegung ist das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Faktoren; im Beispiel des Wetters sind es unterschiedlich warme Luftmassen. Daneben muss die Möglichkeit gegeben sein, dass die unterschiedlichen Kräfte in einem „Raum” aufeinander treffen, der einen Austausch ermöglicht. Es muss ein Feld vorhanden sein, das einerseits eine Rahmung bietet, damit sich die Spannung nicht verliert; es muss aber andererseits auch ausreichend Weite vorhanden sein, damit sich die unterschiedlichen Tendenzen nicht gegenseitig blockieren. Diese beiden Bedingungen, die einer Bewegung zu Grunde liegen, können wir uns auf auch musikalische Verhältnisse übertragen vorstellen: zunächst ist es die Unterschiedlichkeit der Tendenzen, dann der „Raum”, in dem die unterschiedlichen Strebungen miteinander in Austausch kommen können. Aus dem Zusammenhang und Austausch sich polar ergänzender Wirkungskräfte entwickelt sich die jeweilige Gestalt der Improvisation. Der Fortgang der Improvisation ergibt sich aus der Orientierung der Spieler an der Polarität, die im jeweiligen musikalischen Material wirksam ist. Die folgenden Überlegungen gelten nun der Benennung und Beschreibung der Polaritätsverhältnisse, die wir im Improvisationsgeschehen auffinden können. Zum Begriff der Polarität Der Begriff der ›Polarität‹ bedarf zunächst einer näheren Betrachtung. Im allgemeinen Sprachgebrauch ist der Begriff ›Polarität‹ durchaus gleichbedeutend mit dem Begriff ›Gegensatz‹. Zu ›polarisieren‹ bedeutet, die Gegensätzlichkeit und Unvereinbarkeit innerhalb eines Systems zu betonen oder zu verstärken. Im Zusammenhang unserer Überlegungen ist es jedoch sinnvoll, die Begriffe ›Polarität‹ und ›Gegensatz‹ inhaltlich zu unterscheiden. Eine solche Unterscheidung finden wir auch bei dem Philosophen JEAN GEBSER (1977). GEBSER leitet aus der begrifflichen Trennung von ›Polarität‹ und ›Gegensatz‹ eine grundsätzlich unterschiedliche Sichtweise des menschlichen Seins und Erlebens ab. In der Polarität ist für GEBSER „...die lebendige Konstellation (gegeben) des Sich-Ergänzenden, des Sich-Entsprechenden, des Einander-Bedingens”. „Polarität ist Ergänzung und ahnt noch um das Ganze.” Im Gegensatz (oder synonym: im Dualismus) dagegen handelt es sich um „einander ausschließende und einander bekämpfende Größen. (...) Dualität rechnet nur mit Teilen.” In der Polarität ist das Verhältnis von ›sowohl - als auch‹ bestimmend. Im Gegensatz gilt ein striktes ›entweder - oder‹. Ein Drittes gibt es nicht. Im Bereich der Polarität dagegen können wir als ›das Dritte‹ die Bewegung ansehen. Die Bewegung zwischen den Polen und der Austausch ihrer unterschiedlichen Eigenschaften führen zu Gestaltverwandlungen. Vergleiche hierzu die beiden folgenden Abbildungen. Die erste Abbildung illustriert den Unterschied von Hell und Dunkel (im oben ausgeführten Sinne) als einen Gegensatz. Im Bild von M.C. ESCHER (Anm.d.Red. : Bild aus lizenzrechtlichen Gründen nur im Buch verfügbar) dagegen erscheint die Unterschiedlichkeit von Hell und Dunkel als Polarität im Sinne des „Einander-Bedingens”, als Ergänzung und Entsprechung. Wie in der Improvisation führt auch in diesem Bild der Austausch der Pole zu einer Gestaltverwandlung. Im Ineinandergreifen der hellen und dunklen Formen entsteht die neue Gestalt. In der psychotherapeutischen Behandlung begegnen wir seelischen Formenbildungen, in denen die Pathologie auch daran abzulesen ist, dass Spaltungen und Gegensatzbildungen bestehen und mit einem hohem Aufwand seelischer Energie aufrecht erhalten werden. Widersprüchliche Bestrebungen im Seelischen, wie das Bedürfnis nach Autonomie und Abhängigkeit, oder die Abstimmung von Distanz und Nähe, lassen sich nicht im Muster der Gegensätzlichkeit, also nach dem Prinzip des ›entweder - oder‹ vereinbaren. Wird als unvereinbarer Gegensatz aufgefasst, was nur als Ergänzungsverhältnis lebbar ist, führt dies zu konflikthaften, unzulänglichen Lösungen. Problematische Verkehrungen in der Lebensmethode tauchen auf im Vermeiden, Gleichsetzen oder Abspalten der jeweils entgegen gesetzten Tendenz. Diese Verkehrungen haben eine Entsprechung in der Art und Weise, in der der Patient das musikalische Material verwendet. Therapeutische Bemühung kann (in dieser Auffassung der Begriffe) als der Versuch angesehen werden, dort Polarität herzustellen, wo Gegensätzlichkeit besteht. Wir verwenden in der Musiktherapie die Improvisation in der Annahme, dass das Seelische in seinen Produktionen lebt. Das gemeinsame Kriterium von musikalischem Geschehen und seelischem Erleben ist das der stetigen Bewegung, des Zusammenspiels von Formenbildung und Formverwandlung. In der Improvisation sollen Formenbildung und Formverwandlung in der Benennung der Polaritätsverhältnisse zugänglich werden. In meinem Verständnis der Zusammenhänge einzelner Materialbereiche finden sich Ähnlichkeiten zu den musikalischen Wirkungskomponenten, die FRITZ HEGI (1998) in seinem Buch „Übergänge zwischen Sprache und Musik” formuliert. Er stellt die Komponenten, also die Materialbereiche der Musik, in Zusammenhang mit Kontaktmustern, in denen die jeweilige musikalische und persönliche Beziehung beschreibbar wird. Ich schlage einen anderen Weg ein, indem ich in den einzelnen Materialbereichen das jeweilige Polaritätsverhältnis benenne, und diese polaren Wirkungsverhältnisse auf eine Systematik der Morphologischen Psychologie beziehe. Dadurch komme ich zu einer etwas anderen Aufzählung der Materialbereiche. HEGI benennt Klang, Rhythmus, Melodie, Dynamik, Form. In meiner Systematisierung gehe ich von Rhythmus, Melodie, Klang - Impuls, Stille und Form aus, wobei jeweils zwei dieser Materialbereiche in ein polares Verhältnis zueinander gesetzt werden (s.u). Musikalische Materialbereiche und Benennung von Polaritäten Musikalische Verhältnisse sollen nun unter dem Gesichtspunkt der Polarität gesehen werden. Eigenschaften und Wirkungszusammenhänge einzelner Materialbereiche sollen dadurch deutlich werden. Dies kann geschehen, wenn mit der Benennung der Polarität die Spannung und die daraus resultierende Dynamik des jeweiligen Geschehens erkennbar wird. Wir können uns fragen, auf welchem Spannungsverhältnis ein rhythmischer Verlauf beruht; welche polaren Verhältnisse liegen einem melodischen Geschehen zu Grunde, welches ist die bestimmende Polarität im Bereich des Klangs, der Form etc. Wie kommen wir nun zur Benennung der zutreffenden, das heißt, der jeweils formbestimmenden Pole? Es soll nicht um allgemeingültige Festlegungen gehen, sondern um bewegliche, im jeweiligen Zusammenhang sinnvolle Setzungen. Die Auswahl der Pole, d.h. die Festlegung, von welcher Gegenüberstellung zweier Wirkungsrichtungen man ausgeht, ist damit jedoch nicht beliebig. Von Bedeutung ist es ebenfalls, in welchem Kontext wir eine Improvisation betrachten. Hier macht es einen Unterschied, ob es sich um eine Improvisation innerhalb der Therapie handelt, um eine künstlerische Improvisation oder um die pädagogische Anleitung zur Improvisation. Immer ist aber eine Auswahl mehrerer sinnvoller Benennungen möglich. Die Bezugspunkte müssen so gewählt und benannt werden, dass sich wesentliche Eigenschaften und Wirksamkeiten des Materials abbilden lassen. Aus der Benennung wird jeweils ein bestimmtes Feld überschaubar. Es gibt also nicht die eine Polarität, sondern mehrere mögliche Setzungen, die jeweils Anderes in den Blick rücken. Über die Notwendigkeit, Bezugspunkte zu setzen, um ein bestimmtes, bewegliches Feld überschauen zu können, finden wir folgende Gedanken im I Ging: Das dreitausend Jahre alte chinesische „Buch der Wandlungen”, das I Ging, beschreibt die Gesetzmäßigkeiten sich immerwährend wandelnder Bedingungen des menschlichen Lebens in einem System von Bildern. „Es muss bei allem Wandel ein Vergleichspunkt da sein, auf den der Wandel bezogen wird (...). Dieser Bezugspunkt muss festgelegt werden, bedarf jederzeit einer Wahl und einer Entscheidung. (...) Daher steht am Anfang der Welt wie am Anfang des Denkens die Entscheidung, die Festsetzung des Beziehungspunktes.” (R. WILHELM, 1956, S.260) Im Buch der Wandlungen geht es um die Betrachtung menschlicher Verhältnisse. Da sich alles Menschliche, so das I Ging, zwischen Himmel und Erde abspielt, liegt der richtige Bezugspunkt in der Polarität von Himmel und Erde, und damit in der Polarität von Hell und Dunkel, von schöpferischem und empfangendem Prinzip, von Offenheit und Entschlossenheit (vgl. C. KEIDEL-JOURA, 1999). Auf eine ähnliche Weise können wir vorgehen, wenn wir nach der geeigneten Benennung der entsprechenden Polarität im musikalischen Material suchen. Für die Bereiche ›Rhythmus‹ und ›Melodie‹ soll dies im Folgenden usgeführt werden. Polaritätsverhältnisse im Bereich des Rhythmus Das rhythmische Geschehen lässt sich betrachten in der Polarität von »Gleichmaß und Vielfalt«. Damit sind zwei Pole benannt. In der Regelmäßigkeit des immer wiederkehrenden Pulses ist das Gleichmaß gegeben. Die Vielfalt ist enthalten in den rhythmischen Variationen, Auffüllungen, Abweichungen und Auslassungen, die das Geschehen interessant und lebendig machen. Um das Austauschverhältnis der beiden Pole, das „Ahnen des Ganzen”, zu ermöglichen, bedarf es einer Ergänzung: damit Zusammenhalt und Dynamik des Geschehens gleichermaßen bewahrt bleiben, muss das Gleichmaß beweglich und plastizierbar sein im Hinblick auf die Veränderungen; die Vielfalt dagegen muss auf die Regelmäßigkeit des Pulses bezogen sein. Die erweiterte Formulierung lautet also: »Rhythmisches Geschehen wird erfahrbar in der Polarität von beweglichem Gleichmaß und bezogener Vielfalt.« Die zuvor erwähnte Unterscheidung der Begriffe ›Polarität‹ und ›Gegensatz‹ lässt sich am Beispiel des Rhythmus nochmals verdeutlichen. Ein lebendiges rhythmisches Geschehen entsteht nur dann, wenn es keine Festlegung auf eine der beiden Möglichkeiten ›Gleichmaß‹ oder ›Vielfalt‹ geben muss. Allerdings ergibt auch die ausgewogene Mitte zwischen den beiden Polen keinen interessanten Verlauf. Lebendig wird das Geschehen erst, wenn sich die Improvisation einlassen kann auf die Spannung zwischen den Verbindung schaffenden Qualitäten des Gleichmaßes - und der zur Erweiterung und Auflösung tendierenden Vielfalt. Künstlerisch interessante und lebendige Formenbildungen werden dabei immer auch mit Extremisierungen dieser Spannung einher gehen. Ein mangelnder Austausch der Pole ›Gleichmaß‹ und ›Vielfalt‹ hingegen würde im Wirkungsfeld des Rhythmus entweder zur Erstarrung im immer Gleichen - oder zur Auflösung des Zusammenhangs führen. In einer entsprechenden Verwendung des musikalischen Materials verdeutlicht sich das Erleben des Patienten: wir begegnen einer Welt- und Beziehungser-fahrung, die von zu großer Starrheit oder von drohender Auflösung geprägt ist. Von der Benennung ›bewegliches Gleichmaß und bezogener Vielfalt‹ soll es nun noch einen Schritt weiter gehen. Das Ziel war ja, das Objekt-Ähnliche der Musik in Verbindung zu bringen zum Erleben, zur subjektiven Aneignung des Materials durch den Spieler. In der Improvisation begegnen wir einer Produktion des Seelischen. Vergegenwärtigen wir uns also die Tätigkeiten, die notwendig sind, um Gleichmaß oder Vielfalt in der Musik herzustellen: indem wir Gleichmaß herstellen, verbinden wir; die Produktion von Vielfalt hat damit zu tun, einzelnes von anderem zu lösen. Es ergeben sich daraus die Benennungen: verbinden und lösen. Damit wird eine bestimmte Qualität des Miteinander-Seins benannt. Gleichzeitig beziehen sich verbinden und lösen auch auf die Geschichte, auf den Verlauf des Geschehens; auf das, was vorher war und was als nächstes kommt. Mit den Begriffen verbinden - lösen sind allgemeinere, nicht mehr nur musikalische Bewegungen benannt. Da wir die verschiedenen Bewegungsrichtungen nicht getrennt, sondern in ihrer polaren Zusammengehörigkeit anschauen, wird die Dynamik des Geschehens fassbar. In der Benennung dieser Dynamik (zum Beispiel in den Begriffen ›verbinden - lösen<) ergibt sich das Bindeglied, mit dem musikalisches Phänomen und psychologische Betrachtung zusammenzubringen sind. (Vgl.: ZUCKERKANDL , a.a.O., S.63) Wenn wir im Zusammenhang einer musiktherapeutischen Improvisation z.B. vom Auftauchen eines Rhythmus sprechen, dann ist damit eigentlich schon immer mehr und anderes gemeint als in einer musikologischen Beschreibung des Rhythmus enthalten ist: dann reden wir davon, welche Bedeutung der Rhythmus im Verlauf dieser besonderen Situation hat und in welche Beziehung sich der Rhythmus-Spieler zu seinem Gegenüber setzt. In unserem Erleben wird unterscheidbar, ob der Rhythmus zur Konsolidierung verhilft oder ob er zu einer Verfestigung und Einengung führt. Das Verständnis einer Improvisation stützt sich also wohl immer auch auf Wirkungszusammenhänge des musikalischen Materials. Polaritätsverhältnisse im Bereich der Melodie Ein melodischer Verlauf muss für sich allein stehen, um gehört und verstanden zu werden; d.h. er darf nicht von anderen Melodien überlagert werden - oder es muss ein harmonisches System gegeben sein, das das Miteinander mehrerer Stimmen regelt. Verglichen mit anderen Materialbereichen findet sich im Melodischen ein größeres Maß an Individualität, an Vereinzelung und Differenzierung. Melodisches Geschehen hat den Charakter einer persönlichen Aussage. Die Melodie erscheint in ihrer klar abgegrenzten Gestalt oft als eine sprachähnliche Figur. Eine Melodie braucht Phrasen, Abschnitte, einen deutlichen Anfang und Ende. Dauer und Wiederholung haben im melodischen Geschehen eine wesentlich andere Bedeutung als etwa im Zusammenhang von Rhythmus oder Klang. Die Melodie benötigt einen Hintergrund, vor dem sie sich abheben und konturieren kann; sie bewirkt eben diesen Hintergrund, sobald sie erkennbar wird. Konturieren kann sich die Melodie mit den verschiedenen musikalischen Möglichkeiten: Klangfarbe, Lautstärke, Register etc. Welche Benennung einer Polarität ist nun im Bereich der Melodie sinnvoll? Ich schlage vor, hier nicht die Bewegungen innerhalb der Melodie selbst zu betrachten, sondern die Polarität in der Ergänzung zu den beschriebenen Eigenschaften der Melodie zu suchen, d.h. die polare Entsprechung zu Differenzierung, Abgrenzung, Individualität und Aussage zu benennen: Der abgegrenzten, melodischen Gestalt stellen wir daher ein undifferenziertes, aber resonanzfähiges Kontinuum (als etwas „immer Währendes”) aller übrigen musikalischen Möglichkeiten gegenüber. Melodisches Geschehen wird so erfahrbar in der Polarität von ›Abgrenzung‹ und ›Gesamtheit‹. Die beiden sich ergänzenden Bewegungen der abgegrenzten Melodie gegenüber dem Gesamt der Klänge im Kontinuum werden hergestellt in den Tätigkeiten ›vereinzeln‹ und ›vereinheitlichen‹. Die grundlegende Organisation der seelischen Formenbildung zeigt sich in der Improvisation in einer charakteristischen Verwendung des musikalischen Materials. In zwei kurzen Beispielen soll angedeutet werden, wie mit der Benennung der Polarität diese Verwendung in der Behandlungssituation erkennbar wird. Fallvignette: ›Melodie‹ In der Polarität von vereinzeln und vereinheitlichen lassen sich wesentliche Merkmale der hier kurz skizzierten Behandlung verdeutlichen. Einer 35-jährigen Patientin ist es in der Musiktherapie über lange Zeit gelungen, in ihren Improvisationen einen unzugänglichen Raum, eine in sich geschlossene Eigenwelt herzustellen und aufrecht zu erhalten. Kontaktbemühungen des Therapeuten führten meist eher dazu, dass dessen eigene musikalische Angebote sich unbrauchbar anfühlten, als dass eine Annäherung an das Spiel der Patientin gelang. Die Eigenwelt der Patientin erhielt ihre konkrete musikalische Ausformung in einer auf die Pentatonik begrenzten melodischen Spielweise des Metallophons. Das Ungreifbare, Aufgelöste, Sich-Entziehende hatte in der Pentatonik einen musikalisch umschreibbaren Ort gefunden, dem gegenüber alle Erweiterungsversuche wie gefährliche Angriffe erschienen. Nur im Bereich des Ungreifbaren, Nebelhaften - so die Vorstellung der Patientin - könne sich „das Eigentliche” ereignen, das einzige, das wirklich mitteilenswert sei. Sollte aber je ein Inhalt doch in die Nähe der Benennbarkeit gelangen, so würde er sich vom Erleben des Eigentlichen, das nicht benennbar sein kann, entfernen. In der Benennung nämlich würde das Erleben verlorengehen, der mitteilbare Inhalt würde unwirklich und verkehrt. Die wesentlichen Bereiche des Erlebens werden daher geschützt, indem sie der Mitteilung entrückt bleiben. Im Verlauf der Behandlung äußerte die Patientin den Wunsch, ihre Singstimme einzusetzen. In ihrer Vorstellung ging es dabei um einen Schritt, der, sollte er gelingen, in der Folge die weitere Behandlung eigentlich überflüssig machen würde. Diese Vorstellung einer totalen Veränderung entfernte das Vorhaben jedoch gleichzeitig aus dem Bereich dessen, was möglich und machbar sein konnte. Allmählich gelang es jedoch, sich über Zwischenschritte dem Vorhaben des Singens anzunähern. Es entstand so etwas wie ein greifbarer Arbeitsbereich, in dem es darum ging, notwendige Voraussetzungen und Vorbereitungen für den Einsatz ihrer Stimme zu erforschen. Hiermit schien sich nun eine wesentliche Veränderung abzuzeichnen: es sah so aus, als könne sich im Singen ein Zugang zur bisher unzugänglichen Eigenwelt der Patientin ergeben. In der Annäherung an das Singen bekam die Rolle des Therapeuten einen besonderen Charakter. Durch sein Spiel sollte eine fördernde, tragende Umgebung entstehen, in der es die Patientin wagen konnte, ihre Stimme hörbar werden zu lassen. Der Therapeut wurde dabei jedoch auf eine eigenartige Weise in seinen musikalischen Bewegungs- und Ausdrucksmöglichkeiten stillgelegt. Die Möglichkeit, eigene Impulse einzubringen und damit einen Dialog herzustellen (wie es zumindest ansatzweise in den Improvisationen gelungen war), wurde in dieser Position so gut wie aufgehoben. Auch hatte die Patientin die Vorstellung, dass mit dem Singen die früheren Möglichkeiten der gemeinsamen Improvisation überflüssig geworden wären. Die Erarbeitung des Singens erschien also zunächst wie ein progressiver Schritt; in der Rollenaufteilung des Singens auf der Seite der Patientin und in der Aufgabe des Therapeuten, einen Halt gebenden Hintergrund zur Verfügung zu stellen, schien eine Differenzierung möglich zu werden. Der Austausch zwischen diesen beiden Positionen wurde aber aufgehoben. In der Wahrnehmung des Therapeuten entstand, während er mit Monochord und Klavier eine Art Hintergrund-Kontinuum spielte, das unheimliche Gefühl, eingesponnen, ein anderes Mal wie versteinert zu werden; als gäbe es ein Verbot oder wäre gefährlich, den Kopf zu wenden und dem Blick der Patientin zu begegnen, während sie ihre Melodien sang. Was zunächst wie ein Differenzierungsschritt aussah, stellte sich als der Versuch dar, die alte Spaltung wiederherzustellen, wenn auch dieses Mal mit veränderten Rollen. Es findet eine Umkehrung der früheren Beziehungssituation statt. Zunächst ist die Patientin in einer ungreifbaren Eigenwelt verborgen; jetzt soll der Therapeut wie in einer Wolke zum Verschwinden gebracht werden. Dabei ist es nicht der Wunsch nach einem Halt gebenden Hintergrund, der hier verkehrt wirkt. Darin wäre durchaus eine positive, mütterlich haltende Position zu sehen, aus der heraus sich Differenzierung und Ablösung ergeben könnten. Die Trennung zwischen den Polen vereinzeln und vereinheitlichen wird aber aufrecht erhalten, und dies führt dazu, dass aus einer potenziellen Entwicklung die bloße Umkehrung der Verhältnisse wird. Aus dieser Erfahrung ergab sich der Eindruck, dass in der seelischen Organisation der Patientin eine grundlegende Unterscheidungsfähigkeit mangelhaft ausgebildet sein muss. Eine Bewegung hin zu Entwicklung und Differenzierung ist nicht wirklich zu unterschieden von der Tendenz zu Auflösung und Symbiose. Daraus folgt, dass der Patientin bei jedem Entwicklungsschritt, der mit Loslösung und Differenzierung zu tun hat, in einem unerträglichen Maße die Orientierung darüber fehlt, in welche Richtung sie sich eigentlich bewegt. Trennungsbemühungen wie auch Beziehungswünsche sind so mit der Gefahr einer psychotischen Dekompensation verbunden. Die Achse ›vereinzeln vereinheitlichen‹ kann als die bestimmende Polarität in den Improvisationen und den Beziehungsgestaltungen der Patientin angesehen werden. Vom Aspekt der Melodie her, ist dabei die Polarität von Melodie und Kontinuum bedeutsam. Die Patientin suchte intuitiv nach dem ergänzenden Gegenpol, indem sie sich zur Unterstützung ihrer eigenen Stimme (vereinzeln) ein Halt gebendes Kontinuum (vereinheitlichen) wünschte. Die beiden Pole bleiben aber im Rahmen der Pathologie zunächst getrennt. Es darf kein lebendiger Austausch entstehen. Im Gefühl des Versteinert-Werden zeigt sich die Bedrohung, der man bei dem Versuch, die beiden Pole in Austausch zu bringen, begegnet. Fallvignette: ›Rhythmus‹ Die Aufhebung der Polarität von Gleichmaß und Vielfalt ist kennzeichnend für die folgende musikalische Formenbildung. Die einzige Ausdrucksmöglichkeit, die einer Patientin in einer Musiktherapiegruppe zur Verfügung stand, war ein metrisch-maschinenhaftes Spiel auf der Trommel. Die im Rhythmischen enthaltene Polarität von Gleichmaß und Vielfalt wurde hier reduziert auf die gnadenlose Gleichmäßigkeit einer Folge von unterschiedslosen Schlägen, denen jede Beweglichkeit und Differenzierung fehlte. Im Zuhören und in Versuchen des Mitspielens vermittelte diese Spielweise den Eindruck von Aussichtslosigkeit und Isolation. Die Patientin selbst erlebte darin jedoch etwas anderes: nachdem es ihr zuvor lange unmöglich gewesen war, überhaupt ein Instrument zu spielen, fühlte sie sich in ihrem Trommelspiel wohl und hatte das Gefühl, „da sein” zu können und mit der Gruppe in Kontakt zu kommen. Stillstand und Erstarrung einerseits (als defiziente Aspekte des Gleichmaßes und des Verbindens) und das Erleben von Vitalität andererseits waren hier in ein und demselben Pol des rhythmischen Geschehens wie ineinander gedrängt, während der Aspekt der Vielfalt (lösen) ausgespart blieb. Im Miterleben der monotonen Gleichmäßigkeit dieser Spielwiese entstanden Assoziationen zur Situation eines allein gelassenen Säuglings, dessen Schreien nicht mehr als Kontaktsignal erlebt wird, sondern nurmehr der Selbstvergewisserung dient. Da in einer solchen Situation die Differenzierungen in der Äußerung keine Resonanz hervor rufen, scheinen sie irgendwann sinnlos zu sein und werden aufgegeben. Im Verlauf der Behandlung erhielt der abgespaltene Aspekt der ›Vielfalt‹ zunächst im Spiel des Therapeuten einen Raum, während die Patientin weiter bei ihrer stereotypen Spielweise blieb. Allmählich konnte sie Impulse und rhythmische Vielfalt im Spiel des Therapeuten hören und in Bezug zu ihrem eigenen Spiel erleben, um dann auf die angebotenen Differenzierungen einzugehen und so auch ihren eigenen Ausdruck allmählich beweglicher werden zu lassen. Bei der Überlegung, wie viele und welche Materialbereiche zu unterscheiden sind, gehe ich von den Phänomenen aus, die uns in der Improvisation begegnen und deren Benennung uns zu ihrem Verständnis verhelfen können. Dabei sollte nicht übersehen werden, dass es die Improvisation ist, die hier Gegenstand der Überlegungen ist, nicht die Musik im Allgemeinen. Neben den Benennungen für die Bereiche ›Rhythmus‹ und ›Melodie‹, sollen hier die übrigen Polaritätsverhältnisse nur kurz erwähnt werden. Als weitere Materialbereiche unterscheide ich Klang, Impuls, Stille und Form. Die Benennung eines Bereichs ›Impuls‹ mag auf den ersten Blick nicht plausibel erscheinen. Sie ergibt sich jedoch aus der Erfahrung vieler Improvisationen, in denen der Impuls als eine eigene Qualität der Beziehungs- und Verlaufsregulation erkennbar wurde. Zur Eigenart eines gelungenen Impulses gehört, dass er auf das Geschehen bezogen ist, auf das er einwirken soll, und sich gleichzeitig von ihm löst. In der hier dargestellten Systematik lassen sich nun jeweils zwei Materialbereiche in einer Polaritätsbeziehung zusammenfassen: In der Benennung ›vereinzeln vereinheitlichen‹ stehen sich Melodie und Klang gegenüber. Die Polarität ›verbinden lösen‹; bezeichnet das Geschehen von Rhythmus und Impuls. In der Polarität von ›erscheinen vergehen‹ lassen sich Phänomene von Form und Stille beschreiben. Die Bedeutung der Polaritätsverhältnisse für die Improvisation Aus der Benennung der jeweils wirksamen Pole innerhalb der Materialbereiche ergibt sich eine Orientierung. Der Spieler weiß um den jeweiligen „Ort”, um die möglichen Auswirkungen und Konsequenzen seiner Spielweise im Spannungsfeld der polaren Wirkungen. Dieses Wissen steht dem intuitiven Umgang mit den musikalischen Möglichkeiten nicht entgegen, auch wird die Spontaneität des Ausdrucks nicht begrenzt. Vielmehr erweitert sich der Fundus der intuitiven und vorbewussten Verwendungsmöglichkeiten der musikalischen Mittel; das Spiel kann dadurch differenzierter und spannungsreicher werden. Im didaktischen Zusammenhang ermöglicht es die Systematik, Aufgabenstellungen zu formulieren, mit deren Hilfe einzelne Materialbereiche und ihre Bedeutung in der Improvisation erlebbar werden. Im therapeutischen Zusammenhang lässt sich eine genauere Wahrnehmung entwickeln für die Art und Weise, in der der Patient das musikalische Material benutzt und zu welcher Verwendung er uns veranlasst. Der Umgang mit den Polaritätsverhältnissen bedarf dabei durchaus einer Einübung (Footnote 01).
Wir gehen davon aus, dass sich in der Improvisation des Patienten Strukturierungsmerkmale seiner Lebensmethode widerspiegeln. Der psychische Konflikt zeigt sich in der Improvisation in einem gestörten Verwandlungsgeschehen. Die Verkehrungen und Vermeidungen dieser beeinträchtigten Verwandlung haben ihre Entsprechung in einer besonderen Verwendung des musikalischen Materials. Ablesbar wird dies in der Art und Weise, in der Polaritätszusammenhänge verändert werden: der Austausch der Pole untereinander wird eingegrenzt oder verhindert, der jeweilige Gegenpol wird ausgespart oder abgespalten. In der Abgrenzung einzelner Bereiche des musikalischen Materials soll Unterschiedliches kenntlich werden, ohne dass dabei der Zusammenhang der Phänomene verloren geht. Es gibt dabei keine Hierarchie der einzelnen Bereiche oder ein ›Zuerst‹ und ›Dann‹ ihrer Erscheinung oder ihrer Bedeutung. Wir stoßen bereits auf eine begriffliche Schwierigkeit, wenn wir einzelne Aspekte getrennt betrachten wollen; wissen wir doch aus unserem Erleben der Musik, dass wir es immer mit einem Zusammenwirken aller Faktoren zu tun haben. Keine Melodie, kein Rhythmus ist denkbar ohne Klangaspekt. Kein Klang ist erlebbar ohne die Rhythmisierung seines Erscheinens und Vergehens oder seiner Lautstärkedynamik, und sei es die Rhythmisierung in der unterschiedlich intensiven Aufmerksamkeit der Hörer einem gleichbleibendem Geschehen gegenüber. Durchaus finden wir aber unterschiedliche Gewichtungen: eine Improvisation kann hauptsächlich geprägt sein z.B. von Klang- und Geräuschfeldern, eine andere eher vom rhythmischen Ereignissen etc. Übergeordnete Systematik Der einzelne Materialbereiche stehen einander gegenüber in einem Verhältnis von Herkommen, Erweiterung, Entfaltung, und Ergänzung. Als Beispiel eine der möglichen Anordnungen der Materialbereiche: hier in der Hauptachse ›verbinden lösen‹ Die horizontale Achse bezeichnet das Polaritätsverhältnis, das jeweils im Vordergrund steht (Herkommen und Ergänzung); in der Skizze ist es das Verhältnis von verbinden und lösen, in den Materialbereichen Rhythmus und Impuls. Dazwischen befinden sich auf den vertikalen Achsen die beiden anderen Polaritätspaare mit der Funktion von Erweiterung und Entfaltung. Im Zusammenwirken der Bereiche Erweiterung und Entfaltung ergibt sich der Raum, der Voraussetzung ist für den Austausch der polaren Wirkungen der Hauptachse. ( Footnote 02) Damit es zur polaren Ergänzung, d.h. zu einem möglichst lebendigen Geschehen kommen kann, müssen die beiden anderen Paare (Erweiterung und Entfaltung) untereinander jeweils in ihrer Polarität wirksam sein können. Der Anstoß zur Veränderung eines Systems kann sich daher sinnvollerweise auch auf die Polaritätspaare beziehen, die innerhalb von Erweiterung und Entfaltung stehen. Die Förderung dieser Polaritätspaare führt zu einer Belebung des Austausches zwischen den Polen auf der Hauptachse . In der therapeutischen Arbeit ergibt sich im Bereich von Erweiterung und Entfaltung jeweils ein Feld von Beobachtungen und Interventionen; für den Improvisationsunterricht lassen sich hier Übungen und Spielanleitungen ableiten. In der Systematik der Polaritätsverhältnisse wird der Dynamik kein eigener Materialbereich zugeordnet. Im engeren musikalischen Sinne ist die Dynamik (als Dynamik der Lautstärke) ja immer an Klänge, Rhythmen, Melodien, Geräusche etc.geknüpft und auch von dort her zu beschreiben. Im eigentlichen Wortsinn ist die Dynamik „die Lehre der Kräfte”. Mit dem Begriff der Dynamik beschreiben wir also die Intensität, mit der sich der Austausch zwischen den Polen ereignet. Der Austausch zwischen den beteiligten Polen bestimmt die Dynamik des Improvisationsgeschehens. Wir können uns die Dynamik wie den „Wind” vorstellen, der das Geschehen in Bewegung hält und für Belebung und Verwandlung sorgt; es ist „
der Wind, der die angehäuften Wolken auseinandertreibt und heitre Himmelsklarheit schafft.” (WILHELM, a.a.O., S.209) Literatur Adorno, T.W. (1970):»Ästhetische Theorie,« Frankfurt Gebser, Jean (1977): »Ursprung und Gegenwart« Gesamtausgabe Bd. V/II Über die Polarität / Dualismus und Polarität Schaffhausen Grootaers, Frank G. (1994): »Versuch über die Konstruktion von Musiktherapie«, Materialien zur Morphologie der Musiktherapie, Bad Zwesten Hegi, Fritz (1998): »Übergänge zwischen Sprache und Musik« Paderborn Keidel-Joura, Christine (1999): »Vom Charakter des I Ging« München Niedecken, Dietmut (1988): »Einsätze«, Material und Beziehungsfigur im musikalischen Produzieren. Vom subjektiven Ursprung musikalischer Objektivität, Hamburg Salber, Wilhelm (1981): »Wirkungseinheiten« Köln Tüpker, Rosemarie, (1996): »Ich singe, was ich nicht sagen kann« Zu einer morphologischen Grundlegung der Musiktherapie, Münster Weymann, Eckhard (2000): »Sensible Schwebe« Erfahrungen mit musikalischer Improvisation, Musiktherapeutische Umschau Bd. 21/3, Göttingen Wilhelm, Richard (1956) (Hrsg.) »I Ging« Das Buch der Wandlungen (Zweites Buch) München Zuckerkandl, Victor (1963): »Die Wirklichkeit der Musik« Zürich Martin Deuter, Hauptmannsreute 144, D-70193 Stuttgart |